Außerdem ist diese Sache zu einem Bestandteil ihrer Arbeit geworden, zu einer freiwilligen Aufgabe, in die sie sich mit heller Begeisterung einbringt. Denn sie hält sie für sehr wichtig. Sie reist umher und hält sowohl hier in der Stadt als auch in den Nachbargemeinden Vorträge auf Lehrerkursen und auf Planungstagungen. Besucht die oberen Klassen von Grundschulen und Gymnasien, um vor Schülern zu sprechen. Besonders wichtig ist es ihr, in den Grundschulen Kontakt zu den Schülern der Oberstufe herzustellen. Wenn man Schüler in diesem Alter erreicht, ist die Chance groß, daß es mit ihnen gut gehen wird. Allerdings hat es in letzter Zeit auch an den Gymnasien alarmierende Informationen über wachsende Rauschgiftprobleme gegeben. Das ist neu und erschreckend.
Eine Forderung hat Maria immer an sich gestellt: Niemals den Glauben daran zu verlieren, daß das, was sie tut, einen Sinn hat. Deshalb hat sie zugesagt, als der Kursleiter sie bat, aufzutreten. Vorträge an der Basis mit möglichst wenig Theorie und möglichst viel Stoff aus der Praxis, das ist Marias Gütezeichen als Referentin. Jetzt, wo sie daran denkt, fühlt sie sich mutlos. Vielleicht ist sie gar nicht so gut, vielleicht ist es nur so, daß sie ja sagt, während andere nein sagen. Vielleicht hat Fredrik recht, wenn er meint, es habe überhaupt keinen Zweck, daß sie sich lediglich dabei kaputtmache und die Freizeit besser für die Familie nutzen solle.
Sie seufzt. Wahrscheinlich hat er recht, sie hätte nein sagen sollen zu diesem Kursus in Oslo. Aber im Frühjahr, als sie gefragt worden war, hatte sie nicht nein sagen können. Sie hatte es als eine Herausforderung empfunden, als etwas Neues und Interessantes, und so lange vor dem Herbst war es sehr leicht gewesen, ja zu sagen.
Der Kursus findet für Lehrer statt, die an einer Weiterbildung in Sozialpsychologie teilnehmen. Jede dritte Woche soll sie Vorlesungen halten, außerdem Arbeiten korrigieren. Ein Wochenende ist sie bereits dort gewesen. Sie war begeistert, aber zu Hause hatte sie auch gespürt, wie geschafft sie war.
Jede dritte Woche, und das bis zum Frühjahr! Wenn sie jetzt daran denkt, scheint ihr das undurchführbar.
Sie wird immer munterer und wälzt sich im Bett herum. Ebensogut kann sie aufstehen. Mit all diesen Gedanken im Kopf ist es ohnehin unmöglich, wieder einzuschlafen.
Sie sitzt am Küchentisch bei einem Glas Tee, blättert in den Notizen zu den Vorlesungen. Fast ohne es zu merken, raucht sie eine Zigarette nach der anderen. Mit Widerwillen sieht sie den vollen Aschenbecher. Je gestreßter sie ist, desto mehr Zigaretten werden es. Sie schämt sich, daß sie es nicht schafft, dieses Laster abzulegen. Sie hat es wirklich versucht, immer wieder, jedesmal die gleiche Niederlage.
Fredrik meint, das sei nur eine Frage des Charakters, wer nicht aufhören könne, habe einen Defekt im Charakter.
Dann habe ich wohl einen, denkt sie ärgerlich, aber ohne diesen Trost geht es im Alltag überhaupt nicht. Plötzlich fühlt sie Unmut über den mustergültigen Mann, mit dem sie zusammenlebt. Fredrik, der joggt und sich trimmt, der sich samstagabends eine einzige Zigarre gestattet, der sowohl in bezug auf seine Lebensgewohnheiten als auch auf seinen Körper auf Ordnung achtet. Fredrik, der meint, alle Probleme könnten rational gelöst werden, der im Bett liegt und einen gesunden und sorglosen Schlaf hat.
Sie hatte ihm erzählen wollen, was heute im Büro vorgefallen war, es dann jedoch vergessen. Sie hatte gedacht, daß sie vielleicht darüber ulken, es weglachen könnten. Daß sie sich gemeinsam über die roten Flecken auf der weißen Hose, über den Ekel im Gesicht des Chefs amüsieren könnten. Jetzt glaubt sie, daß sie ihm das nie erzählen wird. Vielleicht, weil sie befürchtet, sie könnte auch in Fredriks Gesicht Scham und Widerwillen sehen?
Es ist Morgen, und alles sieht anders aus. Die Kopfschmerzen von gestern, die Depressionen sind heute nur noch wie Schatten.
Während sie sich in dem großen Spiegel im Flur betrachtet, ist sie ganz zufrieden mit sich. Ihr kurzes, dunkles Haar ist frisch gewaschen und glänzt. Sie stellt fest, daß ihr die hellen Streifen, die sie sich kürzlich beim Friseur hat einfärben lassen, gut stehen. Das macht ihre Gesichtszüge weicher, vermindert den tristen Eindruck, der von den grauen Haaren herrührt, die sich immer schneller vermehren.
In wenigen Jahren wird sie ganz grau sein. Das macht nichts, das ist das wenigste, was ihr Sorgen bereitet. Genauso wenig sorgt sie sich um die vier-fünf Kilo, die sie in den letzten Jahren zugelegt hat. In dem hellgrauen Hosenanzug fühlt sie sich einigermaßen schlank. Sie ist groß, die überflüssigen Pfunde fallen kaum auf.
Sie wird den Nachmittagszug direkt nach der Arbeit nehmen. Jetzt, wo der Koffer gepackt ist, sie sich zurechtgemacht hat und sich wohlfühlt, freut sie sich. Auf alle Fälle freut sie sich auf einen ruhigen Abend zu Hause bei Lise. Ein Glück, daß sie Lise hat. Sie ist ihre beste Freundin, seit der Kindheit haben sie fest zusammengehalten. Sie wohnt immer bei Lise, wenn sie in Oslo ist.
Während sie im morgendlichen Verkehr durch die Stadt fährt, ertappt sie sich beim Summen einer Melodie. Jetzt, endgültig unterwegs, graut es ihr nicht mehr vor der langweiligen Zugreise. Im Koffer hat sie ein neues Buch, das sie für die Fahrt eingesteckt hat. Heute kommen keine speziellen Klienten, sie sitzt im Auto und findet, daß das Leben gar nicht so übel ist.
Im Büro ruft sie als erstes Fredrik an. Er mußte heute sehr zeitig los, so daß sie nicht mehr mit ihm sprechen konnte, und sich auf die Reise zu freuen, während er zu Hause sitzt und sich um sie sorgt, das bringt sie nicht übers Herz.
Es ist, wie zu vermuten war: Seine Stimme klingt besorgt, unruhig.
»Mußt du denn fahren? Es ist doch kein Verbrechen, krank zu sein.«
»Ich bin aber nicht krank. Heute fühle ich mich ganz wohl, es geht wieder bergauf.«
»Manchmal weiß ich wirklich nicht, was ich glauben soll«, sagt er, und es klingt verletzt.
Nein, verwunderlich ist es wohl nicht, daß er von ihren Stimmungsschwankungen irgendwann mal genug hat.
»Hast du deinen Arzt angerufen?«
»O verflixt.«
»Du willst doch nicht etwa kneifen?«
»Nein«, erwidert sie schnell, »natürlich rufe ich an.«
Ihre gute Laune ist indessen fast verschwunden. Sie fürchtet sich davor, mit dem Arzt zu sprechen. Am besten, sie bringt es hinter sich, aber sie hat Herzklopfen, als sie die Nummer des Krankenhauses wählt und die Zentrale sich meldet.
»Dr. Moe? Nein, leider, er ist verreist, zu einem Kursus.«
»Oh«, sagt Maria konsterniert, »ist er lange fort?«
»Die ganze nächste Woche«, erwidert die Dame geschäftig, »rufen sie bitte wieder an!«
Maria atmet auf. Ein kleiner Aufschub. Bis dahin will sie das Ganze vergessen.
Eine Weile später ist Fredrik am Apparat.
»Na, was war?«
»Gar nichts, der Arzt ist nicht da, er ist auf einem Lehrgang.«
»Auf einem Lehrgang?« fragt er mißtrauisch. »Du hast wirklich angerufen?«
»Denkst du, ich lüge dich an?« erwidert sie scharf. »Hältst du mich für ein Kind, auf das du aufpassen mußt?«
»Manchmal schon«, sagt er einlenkend. »Paß gut auf dich auf, mein Schatz!« fügt er hinzu, und weg ist er.
»Verflucht noch mal«, murmelt sie ärgerlich vor sich hin und legt den Hörer auf.
Gar nicht schlecht, ein paar Tage wegzukommen, von allem weg.
Schon als sie auf dem Westbahnhof den Zug verläßt, ergreift die Stadt von ihr Besitz. Diese Hektik, die vielen Menschen auf dem Bahnsteig, Oslo ist eine Stadt, die sie zugleich abstößt und anzieht. Das letztere mehr, sie hat sich in Oslo verliebt, die Stadt ist für sie ein Ort zum Verschnaufen geworden. Sie hat es gern, durch die Straßen zu schlendern, unerkannt in der Menschenmenge unterzutauchen, das Treiben, die Anonymität zu erleben.
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