Hertha Kratzer - Alles, was ich wollte, war Freiheit

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Wien ist um 1900 brodelndes kulturelles Zentrum mit Höchstleistungen in Kunst und Wissenschaft. In einer Sphäre der Um- und Aufbrüche wachsen Mädchen heran, die das Korsett bürgerlicher Erziehung sprengen, als erwachsene Frauen selbstbewusst Grenzen überschreiten und erfolgreich ihren Weg gehen. Wanda von Sacher-Masoch zum Beispiel hat „Pelz und Peitsche“ satt und arbeitet als Schriftstellerin. Auch Frida Strindberg-Uhl befreit sich aus der zerstörerischen Ehe mit August Strindberg und reüssiert als Journalistin und Kritikerin. Ihren Berufswunsch Raubtierbändigerin ertrotzt sich die 17-jährige Henriette Willardt, indem sie sich in einen Löwenkäfig sperren lässt. Auch die anderen vorgestellten Österreicherinnen – die Künstlerinnen Tilla Durieux, Cilli Wang, Hedy Lamarr, die Wissenschaftlerinnen Helene von Druskowitz und Berta Eckstein-Diener, die Ärztin Gabriele Possaner und die Lazarett-Gründerin Nora Kinsky – faszinieren durch ihren Mut und die Risikobereitschaft, mit der sie nach eigenen Wertvorstellungen gelebt haben.

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HERTHA KRATZER

Alles,

was ich wollte,

war

Freiheit

AUSSERGEWÖHNLICHE

ÖSTERREICHERINNEN

DER MODERNE

INHALT Cover Titel HERTHA KRATZER Alles was ich wollte war Freiheit - фото 1

INHALT

Cover

Titel HERTHA KRATZER Alles, was ich wollte, war Freiheit AUSSERGEWÖHNLICHE ÖSTERREICHERINNEN DER MODERNE

SCHAUPLATZ MANEGE UND BÜHNE

Henriette Willardt

Die Löwenbändigerin Miss Senide

Tilla Durieux

Die hässliche Diva

Cilli Wang

Die Zauberin

Hedy Lamarr

Die marmorne Sphinx

EMANZIPATION UND EXTRAVAGANZ

Norbertine Gräfin Kinsky von Wchinitz und Tettau

Die adelige Rotkreuzschwester

Wanda von Sacher-Masoch

Venus im Pelz

Frida Strindberg-Uhl

Eine unschickliche Person

WAGNIS WISSENSCHAFT

Bertha Eckstein-Diener/Sir Galahad

Die verwundete Amazone

Helene von Druskowitz

Die abnorme Philosophin

Gabriele Possanner von Ehrenthal

Die unbeirrbare Pionierin

Anmerkungen

Bildnachweis

Impressum

Alles was ich wollte war Freiheit - изображение 2 Alles was ich wollte war Freiheit - изображение 3

„Es gibt nicht ,den Circus‘,

aber jeder trägt beinahe ein ähnliches Bild davon in sich.

Es ist die Atmosphäre, der Ort von Verzauberung

und der Ort unserer Träume,

die den Circus zum Circus machen.“1

Die Faszination der Manege – eines runden oder elliptischen Schauplatzes von Sensationen wie durch die Luft fliegenden Menschen, Kunststücken auf galoppierenden Pferden, gefährlichen Raubkatzen, ihr Leben riskierenden Artisten und von Späßen der Clowns in Glitzerkostümen – erfasst das Publikum auf den billigen Plätzen ebenso wie das in den teuren Logen. Die Zuschauer genießen den Nervenkitzel, fiebern bei waghalsigen Nummern mit und atmen auf, wenn alles gut gegangen ist, sie lachen und applaudieren. Es zählt der Augenblick, und ein Risiko berührt nur, wenn das Leben auf dem Spiel steht. Für manche bedeutet der Zirkus noch mehr als eine Szenerie von Attraktionen, er wird zu einem Traumziel, zur Utopie eines Lebens in Freiheit und Selbstbestimmung.

Für Frauen, die von Freiheit und Selbstbestimmung nicht einmal zu träumen wagten, mag die Manege vollends ein Sehnsuchtsland gewesen sein. Artistinnen, Kunstreiterinnen, Akrobatinnen, Raubtierdompteusen und Kraftfrauen haben schon früh Tabus gebrochen, die bürgerlichen Frauen Grenzen setzten, und in der Manege als realem Arbeitsplatz gleichberechtigt neben und mit ihren männlichen Kollegen gearbeitet. Als Zirkusdirektorinnen waren sie ihnen manchmal auch vorgesetzt. Vom Publikum wurden sie als Außenseiterinnen wahrgenommen, aber bewundert und verehrt.

Für Künstlerinnen auf der Bühne hingegen galt bis ins 20. Jahrhundert das Diktum Jean-Jacques Rousseaus:

„Diejenige, die sich zur Schau stellt, (…) die sieht und gesehen wird, diejenige, welche die ihr gezogenen Grenzen der Häuslichkeit und Privatheit überschreitet, die selbstständig für ihren Unterhalt sorgt und sich damit von der Fürsorge anderer unabhängig machen könnte, verdient es, misstrauisch beobachtet zu werden.“2

Der Wirkungskreis der Frau ist nicht die Bühne, weder die im Theater noch die des öffentlichen Lebens, sondern das von Mauern begrenzte Haus. Wenn eine Frau die Privatheit des Hauses verlässt und sich der Öffentlichkeit darbietet, macht sie sich zum Projektionsobjekt bürgerlicher Sehnsüchte. In Männern erweckt sie Träume erotischer Freizügigkeit, in den Frauen den Traum von Selbstverwirklichung. Beides gefährdet das Normverhalten der bürgerlichen Gesellschaft.

Eine Schauspielerin konnte sich befreien, konnte als Primadonna oder Diva unabhängig, reich und berühmt werden, freilich nur, wenn sie jung und schön war. Gleichzeitig gab es die große Zahl der Schauspielerinnen, die hart am Rande des Existenzminimums lebten und sich mit fragwürdigen Verträgen zufriedengeben mussten. Ein Star auf der Bühne, sei es eine Schauspielerin, eine Tänzerin oder Sängerin, hatte vielleicht weniger finanzielle Sorgen, bewegte sich dafür aber im Dunstkreis von Gerüchten über reiche Gönner, spendable Liebhaber, geheime Besuche in Chambres séparées etc. Die bürgerliche Welt war der Schauspielerin verschlossen, wollte sie heiraten, verlangte der Theaterdirektor oder der bürgerliche Anstand, dass sie die Bühne verlasse.

Die folgenden Biografien schildern die Karriere der Henriette Willardt, die als Löwenbändigerin weltberühmt wurde, die Entwicklung der jungen theaterbesessenen Tilla Durieux zu einer der renommiertesten Schauspielerinnen ihrer Zeit, den Lebenslauf der viel zu wenig bekannten Verwandlungskünstlerin Cilli Wang und das dramatische Leben der Hollywoodikone und Erfinderin Hedy Lamarr.

Alles was ich wollte war Freiheit - изображение 4 Alles was ich wollte war Freiheit - изображение 5

Henriette Willardt

DIE LÖWENBÄNDIGERIN MISS SENIDE

1866 – 1923

Emma Willardt ist entsetzt. Ihre sechzehnjährige Tochter Henriette steht in einem Käfig, umgeben von acht Wölfen, zwei Bären und zwei Hyänen – vor dem Käfig ein riesiger Menschenauflauf. Die Tiere verhalten sich ruhig, die Tochter droht: Sie werde den Käfig nicht eher verlassen, bis ihr die Mutter erlaube, Tierbändigerin zu werden. Das sei ihr Traumberuf. Sie hört weder auf Mahnungen noch auf Bitten, bis die Mutter keine andere Wahl hat, als zuzustimmen. Sie tut es unter Tränen. Emma Willardt, die sich ihren Lebensunterhalt mit einer Schaubude im Wiener Prater verdient, kennt die Gefahren, denen die immer beliebter werdenden Raubtierbändigerinnen ausgesetzt sind. Der Tod der erst siebzehn Jahre alten Dompteuse Ellen Chapman, die 1850 von ihrem Tiger getötet worden war, hatte in England sogar zu einem Auftrittsverbot für Frauen in Raubtierkäfigen geführt. 1886 wird die Französin Nouma-Soulet im Alter von fünfundzwanzig Jahren von ihrem Löwen zerrissen und 1888 stirbt in Prag die kaum ältere Dompteuse Bertha Baumgarten. Manche Dompteusen tragen gepolsterte Kleidung, um sich vor Bissen zu schützen, mit Peitschen, Eisenstangen oder Gabeln versucht die Tierbändigerin im Notfall sich den Rückzug aus dem Käfig zu sichern, auch um den Käfig herum postierte Zirkusmitarbeiter sollen von außen ein angreifendes Raubtier ablenken. Dass diese Maßnahmen höchst unzureichend sind, zeigt die große Anzahl von in Käfigen getöteten Dompteusen.

Emma Willardt, eine gebürtige Hamburgerin, hatte 1873, im Jahr der Wiener Weltausstellung, im Prater in der Ausstellungsstraße Nr. 147 eine Schaubude eröffnet. Sie zeigt Attraktionen wie Magie im Welt- und Zaubertheater von Fräulein Amanda mit Wandelbildern und Wachsfiguren, stellt Riesendamen und Bambutti-Zwerge, Lappländer mit Rentieren und Fidschi-Insulaner aus wie auch die Athletin Sophie Sondermann, die Riesendame Judith Matursik und das Riesenmädchen Therese. Eine Sensation und ein noch besseres Geschäft als die Schaubude ist der angeschlossene „Schnellphotographie-Salon“, in dem Tag und Nacht Ferrotypien hergestellt werden, ein fotografisches Direktpositiv-Verfahren. Später kommt noch eine Schießstätte dazu.

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