Anne Karin Elstad
Ich wollte nie verlieren - ein Frauenschicksal
Aus dem Norwegischen übertragen von Sigurd Schmidt
Saga
Ich wollte nie verlieren - ein Frauenschicksal Übersetzt Sigurd Schmidt Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1992, 2019 Anne Karin Elstad und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711441152
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Heute ist einer der ersten richtigen Frühlingstage. Von meinem Fensterplatz im Bus sehe ich Menschen in leichter Frühjahrskleidung. Ein hoher, blauer Himmel über den Dächern, die Sonne flutet durch die Straßen. Als der Bus an der Haltestelle stoppt, sehe ich sie . Ich sehe Maria.
Sie steht dicht an der Hauswand, im Schatten. Unter den frühlingshaft gekleideten Menschen an der Haltestelle sticht sie hervor, in ihrer Jacke aus gelbgeflecktem Wolfsleder und in Hosen, die in Stiefeln stecken. Mit der einen Hand hält sie den Kragen am Hals zusammen. Den anderen Arm, mit der Handtasche, hat sie fest um den Körper geschlungen. Eine menschliche Statue in eisiger Kälte, das Gesicht halb versenkt in den Kragen, an den sie sich klammert, als müsse sie sich an etwas festhalten, um aufrecht stehen zu können.
Ich sehe dieses Gesicht, blaß, mit Falten über der Nasenwurzel, wie in tiefer Konzentration, um die Fassung zu bewahren.
Für einen kurzen Moment fange ich ihren Blick ein, aber das ist ein Blick, der nichts wahrnimmt. Über den Augen eine dünne Trotzfalte, die Angst und Frieren verbergen soll. Und ihre Angst und ihr Frieren überkommen mich. Ich drehe mich weg, um dem Anblick zu entgehen.
Mit einem langen Seufzer fährt der Bus weiter. Sie bleibt zurück.
Mich fröstelt in der stickigen Wärme des Busses. Fast ohne es zu merken, halte ich den Kragen meines Mantels zusammen, presse meinen Arm mit der Handtasche fest an mich.
Sie ist mir in letzter Zeit nachts erschienen. Nacht für Nacht, in schlaflosen Stunden, habe ich sie bei geschlossenen Augen gesehen. Aber ich sah sie nur wie auf dem alten Negativ eines Schwarz-Weiß-Filmes, den man gegen das Licht hält. Nacht für Nacht kam ihr weißer Schatten hervor und tanzte über die schwarze Leinwand der Dunkelheit. Ich habe sie als kleines Kind gesehen, als junges Mädchen, ich habe ihr Schattenbild gesehen, zärtlich ein Kind im Arm haltend, verschmolzen mit den Umrissen eines jungen Mannes. Und ich habe sie still daliegen gesehen, still, so still, bis sie in sich selbst verschwand, fort war.
Sie zeigte mir niemals ihr Gesicht. Nicht bis vor einem Moment, nicht bis heute. Der Film ist entwickelt, ich habe alles wieder vor Augen.
Mir bleibt keine Wahl mehr. Ich muß Marias Geschichte aufschreiben.
Es passiert während der morgendlichen Besprechung. Maria trägt gerade einen Bericht vor. Plötzlich bricht sie ab, hellwach blickend, nach innen lauschend. Sie sieht die Gesichter der anderen vor sich, sieht, wie aufmerksam sie auf einmal sind, wie sie sie anstarren. Dann spürt sie es. Die Blase, die tief in ihr platzt. Für einen Moment durchrieselt sie die althergebrachte Scham über die Unreinheit der Frau. Sie nimmt sich zusammen, damit ihr nichts anzusehen ist und ihre Stimme nicht zittert.
»Entschuldigung, aber ich glaube, mir ist ein kleines Malheur passiert«, sagt sie, lächelt, gibt ihrem Nebenmann den Bericht mit der Bitte, ihn für sie zu Ende vorzulesen.
Sie erhebt sich, spürt, sieht die roten Flecke, die sich zwischen den Oberschenkeln auf ihrer weißen Hose ausbreiten.
»Nun ja«, sagt sie leichthin und hebt bedauernd die Hände, »das kann jedem passieren, nicht?«
Sie registriert jedoch die verschreckten Gesichter, sieht Verlegenheit, Befremden in den Mienen einiger Männer.
Lächelnd, mit erhobenem Haupt, geht sie hinaus. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hat, lehnt sie sich für einen Moment dagegen, spürt wie die Knie zittern – vor Scham und Entsetzen.
Sie merkt, daß sie ihre Tasche vergessen hat, nimmt sich zusammen und geht wieder zu ihnen hinein. Noch immer herrscht dort diese gelähmte, verlegene Stille.
In der offenen Tür bleibt sie stehen.
»Aber ich bitte euch, guckt doch nicht so entsetzt. Was kann ich dafür, daß ich in der zweiten Pubertät bin!« sagt sie heiter.
Das löst die beklemmende Stimmung, befreiendes Lachen, einige klatschen Beifall.
»Ihr versteht, daß ich schnell mal nach Hause muß. In einer Stunde kommt eine Klientin. Das schaffe ich noch.«
Sie geht zur Toilette, stopft sich eine Binde zwischen die Beine. Binden hat sie jetzt immer in der Tasche, wirft den Mantel über und läuft zum Auto.
Herrgott, was für ein trostloses Wetter. Den ganzen Sommer schon Regen, und der Herbst genauso. Regen und Nebel, tagein, tagaus. Grau in grau.
Ungeduldig hält sie an der roten Ampel. Die Scheibenwischer summen, sie reibt die beschlagenen Fenster im Auto trocken, fährt bei Gelb los und muß scharf bremsen wegen eines Jungen, der im letzten Moment über die Straße läuft. Erschrocken denkt sie, daß sie in ihrem Zustand nicht Auto fahren sollte, daß sie sich und andere gefährdet.
Vom Auto läuft sie ins Haus, durch die Wohnung, spürt die Unordnung vom Vortag mehr, als sie zu sehen ist, nimmt den Geruch von kaltem Zigarettenrauch wahr. In dem trostlosen, grauen Schummerlicht erscheint alles noch schlimmer. Ihr geht durch den Kopf, daß sie es mit dem Haus nie mehr schaffen wird, mit nichts mehr. Selbst wenn sie ständig hetzt, ununterbrochen, von einer Sache zur anderen. Daran muß sie denken und an die peinliche Situation im Büro. Einen langen Arbeitstag so zu beginnen...
Sie erschrickt heftig, als sie ihr kalkweißes Gesicht im Badezimmerspiegel sieht. Wieder muß sie an das Schamgefühl denken, das sie dort auf dem Präsentierteller empfand, die Schande der Frau. Trotz aller Aufklärung und weiblicher Emanzipation war ihnen anzusehen gewesen, den Männern, aber auch den Frauen, daß sie etwas sehr Intimes zur Schau gestellt hatte, etwas, das besonders sorgfältig verborgen wird. Und dafür schämt sie sich.
Plötzlich kommt aus ihrem Inneren, aus dem Verborgenen, eine Erinnerung hoch. Ein zweites Gesicht tritt ihr vor Augen, sie sieht sich als Vierzehnjährige.
Es ist am Abend des 17. Mai, des Nationalfeiertages. Im Jugendklub findet ein Fest statt. Gemeinsam mit ihren Klassenkameraden sitzt sie auf der Galerie. Im Sommer werden sie konfirmiert, deshalb dürfen sie sich das Unterhaltungsprogramm ansehen, bevor der Tanz beginnt.
Die Mädchen sitzen in der ersten Reihe nebeneinander, alle gleich gekleidet, sie tragen die Volkstrachten, die sie in den Handarbeitsstunden in der Schule genäht haben. In der Reihe hinter ihnen die Jungen, die lärmen, sie an den Haaren ziehen und in ihrem Stimmbruch viel zu hoch lachen. Nachdem das Licht im Saal ausgegangen ist, führt sie ihre Hand nach hinten, schmiegt sie in eine warme und schwitzende Jungenhand. Die Hand des einzigen , deren Wärme sie schnell durchdringt.
Da merkt sie es. Zuerst die Schmerzen ganz unten im Rücken, dann der Magen, der sich zu einem harten Knoten zusammenkrampft, was immer unerträglicher wird. Danach die große Blase, die in ihr platzt, das Blut, das in Wellen kommt, in Strömen aus ihr rinnt.
Sie erinnert sich an ihre Verzweiflung darüber, daß sie zwischen den anderen eingeklemmt saß, nicht herauskonnte, sich nicht fortwagte, daß sie die Hand, die ihre hielt, nicht losließ, obwohl ihre Hand kalt und klamm wurde, daß sie kicherte und mit den anderen lachte, daß sie die Vorgänge auf der Bühne nicht wahrnahm, daß vor ihren Augen alles eine rote Wolke der Scham war. Sie blieb sitzen, wie sie saß.
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