Anne Karin Elstad
Lena lächelt schwach. Jetzt solltest du mich sehen, Kjell. Du würdest eine deiner unerschütterlichen Diagnosen stellen. Ich bin der Prototyp der einsamen Frau. Gefangen in meinen bitteren Gedanken, zusammengekrochen in meinem einsamen Sessel. Sogar ein Cognacglas ist dabei, um das Bild zu vervollständigen.
Lena hält ihr Glas gegen das Licht, weiß, daß es keinen Sinn hat, zu Bett zu gehen. Abwesend dreht sie das Glas, sieht zu, wie die goldene Flüssigkeit im Schein der Lampe umherschwappt. Wieder lächelt sie. Du irrst dich, Kjell. Einsam war ich bei dir. Weißt du, daß ich eine Zeitlang das lähmende Gefühl hatte, in einem Ei zu leben? Nein, ich war nicht verrückt, nur besessen von diesem Gedanken. Alles sollte golden sein, gelb, ewiger Sonnenschein und wir im Ei, ich, du, die Kinder, unsere Freunde, unsere Umgebung. Was außerhalb war, ging uns nichts an. Nichts durfte häßlich sein. Noch jetzt habe ich Angst, wenn ich an diese Einsamkeit denke, an das ewige Sonnengelb im Ei.
Beim nächsten Schluck merkt sie fröstelnd, daß sie genug hat. Doch, Kjell irrt sich. Sie hebt das leere Glas, betrachtet es. Auch hierin irrt er sich. Sie trinkt selten, allein fast nie. Wenn sie es tut, endet es normalerweise mit derselben Grübelei.
Bald fünf Jahre ist sie schon mit den Kindern allein.
Anfangs waren die Gedanken an ihr Leben mit Kjell, an ihren Aufbruch und dessen Folgen wie Stacheldraht, der sich in ihr müdes Gehirn bohrte. Sie wehrte sich dagegen, denn ihr neuer Alltag, die Kinder und die Stelle forderten alles, was sie an Energie und Stärke aufbringen konnte. Also verdrängte sie diese Gedanken. Baute eine Sperre zwischen sich und allem, was gewesen war, auf, zwang sich, für den jeweiligen Tag und für das, was vor ihr lag, zu leben. Erst jetzt, nach diesen fünf Jahren, wagt sie, das Verdrängte wieder hochkommen zu lassen. Jetzt gleiten die Bilder ruhiger an ihr vorbei, einige deutlicher als die anderen, aber es tut nicht mehr weh. Die scharfen, schmerzhaften Kanten der Erinnerungen scheinen abgeschliffen zu werden, jedesmal ein bißchen mehr, jedesmal, wenn sie nachgibt und den Gedanken freien Lauf läßt.
Sie waren in einem kleinen Ort an der Küste von Tröndelag aufgewachsen. Lenas Eltern betrieben dort den lokalen Gemischtwarenhandel. Sie hatten das Fährbüro und ein Stückchen Land, genug für ein paar Kühe und fünf, sechs Schafe. Für Lena und ihre drei Brüder herrschte nie Überfluß, aber wie Kjell litt sie nicht unter der beengten Finanzlage, die in den Nachkriegsjahren eher die Regel als die Ausnahme war.
Kjell war der Sohn des Bezirksarztes. Das verlieh ihm natürlich Status und Autorität. Er war drei Jahre älter als Lena, mit ihren Brüdern befreundet. In der Schule war sie im Vergleich zu ihm ein kleines Kind und sie bewunderte ihn. Als sie dreizehn war, besuchte er schon die erste Klasse des Gymnasiums a. Sie erinnert sich noch jetzt daran, wie er in den ersten Weihnachtsferien nach Hause kam, fremd und erwachsen. Ihre Bewunderung kannte keine Grenzen! Er war einer der wenigen, die aufs Gymnasium gingen, und auch das verlieh ihm einen Status, der ihn die meisten anderen weit überragen ließ.
In diesen Jahren war sie aus der Ferne in ihn verliebt. Eine Verliebtheit, die mit den Ferien kam und ging. Als sie alt genug war, um Parties zu besuchen, tanzte er mit ihr, knutschte bisweilen ein bißchen, aber auf eine herablassende Weise, die sie damals schrecklich verletzte. Sonst fand sie keinen Fehler an Kjell. In ihren Augen war er vollkommen.
Nach der Grundschule half sie ihren Eltern ein Jahr lang im Laden. Ihre Mutter meinte, sie sollte das Abitur machen. Der Vater war unwillig, die Jungen ja, aber Lena, als Mädchen ... Doch in diesem Punkt gab die Mutter nicht nach, und irgendwie gelang es den Eltern, allen Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. „Ausbildung“ – das bedeutete Abitur. Für den Rest mußten sie selber sorgen. Lena war die einzige aus ihrem Jahrgang, die aufs Gymnasium kam. Das war für sie ein Wendepunkt. Es war der erste Schritt, der sie vom Heimatort und den Jugendfreundschaften entfernte.
An einem strahlenden Augustmorgen 1955 steht Lena vor dem schwarzen Brett des Gymnasiums und sieht ihren Namen auf der Liste derer, die die Aufnahmeprüfung bestanden haben. Sie läßt sich von der Menge, die sich vor der Liste zusammendrängt, herumbschubsen. Die Gesichter flimmern vor ihren Augen. Sie hat es geschafft!
Auf dem Schulhof bilden sich nach und nach zwei Gruppen. Die Erfolgreichen in unbändiger Freude. Andere, die genauso viel investiert, aber verloren haben, versuchen, sich so unsichtbar wie möglich zu machen, manche spielen die Erhabenen, aber nach und nach verschwinden sie alle. Still, jeder für sich, gehen sie zu ihren Quartieren und packen für ihre bittere Heimreise. Lena fröstelt. Es hätte genauso gut sie treffen können. Nun begreift sie erst richtig, wie entscheidend dieser Tag ist. Noch einmal würde sie es nicht schaffen. Die Alternative wäre die Handelsschule ...
Für den Moment strömt so viel auf sie ein, daß sie sich nicht richtig freuen kann. Sie muß zurück auf ihr Zimmer, muß jetzt allein sein.
Die Arme unter dem Nacken verschränkt, liegt sie auf dem Bett und starrt die Decke an. Was ist das für ein Sommer gewesen! Sie war so glücklich, als ihr Vater damit einverstanden war, daß sie aufs Gymnasium ging. Sie hat gelernt und sich vorbereitet. Stein, ihr nächstältester Bruder, der in diesem Jahr Abitur macht, hat ihr geholfen, und nie ist ihr der Gedanke gekommen, sie könnte durchfallen. Deshalb war es ein Schock, herzukommen. Ein Schock, zur Prüfung zu erscheinen und zu wissen, daß danach nur wenige von ihnen dabeisein würden. Die Furcht hat ihr die ganze Zeit wie ein Stein im Magen gelegen. Die Furcht, die alle hinter unbekümmertem Gelächter und Albernheiten verborgen haben. Und dann dieser Tag, ihr Name bei denen, die bestanden hatten, die starren Gesichter der Durchgefallenen.
Nachmittags holt sie Stein und Kjell vom Bus ab. Die beiden sind eng befreundet, gehen in dieselbe Klasse und wohnen zusammen bei Kjells Tante im Souterrain. Lena begleitet sie, hilft mit dem Gepäck, und nun freut sie sich nur noch. Jetzt erst begreift sie, daß sie nun dazugehört. Lachend und scherzend hören die beiden Jungen ihren Wortschwall. Über diese Aufgabe und jene, und ob sie sich überhaupt vorstellen können, wie schrecklich alles war?
Mit hüpfendem Pferdeschwanz tanzt sie zwischen ihnen, ein großes, schmales Mädchen in ärmelloser Bluse und engen Jeans. Sie spürt, daß heute mehr als je zuvor in ihrem Leben ihr Tag ist.
Die erste ausgelassene Freude wich bald Ernst und Arbeit. Eine Sache war es, aufgenommen zu werden, eine andere, auch weiterzukommen. Die erste Klasse war eine buntgemischte Gruppe. Die Schüler kamen aus unterschiedlichen Verhältnissen, ihr Alter schwankte um zwei bis drei Jahre. Die Ältesten waren fast ausschließlich Jungen. Die meisten hatten nur die Grundschule besucht. Im Laufe eines Jahres sollten sie aufholen, was die anderen in zwei oder drei Jahren Realschule gelernt hatten. Nur ein paar Glückskinder hatten weitergehenden Unterricht erhalten.
Sie wußten, daß die anderen in der Klasse die Realschüler einholen mußten. Dieser Druck lastete die ganze Zeit auf ihnen, schuf aber auch eine besondere Gemeinschaft. Sie nahmen nichts als gegeben hin. Vom ersten Tag an herrschten Arbeit und Ernst.
Auch sonst gab es viele Gemeinsamkeiten. Alle hatten wenig Geld. Sie holten ihre Essenspakete, die mit dem Bus von zu Hause kamen, und sie drehten jede Krone um, die die Eltern ihnen schicken konnten.
Es war harte Plackerei. Spätabends saß sie manchmal weinend über ihren Büchern. Ein bißchen Englisch hatte sie schon vorher gelernt, alles andere war neu. Englisch, Deutsch, Mathematik, Grammatik – alles wurde zu einem unbegreiflichen Brei zusammengerührt. Manchmal kamen Stein und Kjell ihr zu Hilfe, doch sie zeigten dabei gereizte Ungeduld. Beide hatten in ihrem letzten Jahr mehr als genug zu tun, in den freien Stunden wollten sie von der Schule nichts hören. Selber hatten sie keine Angst davor, Lena um Hilfe zu bitten. Es fing ganz klein und harmlos mit einem Hemd an, das sie einfach nicht richtig sauber bekamen. Ob Lena vielleicht so lieb sein könnte? Sie war so lieb, und ehe sie es begriffen hatte, war daraus eine Gewohnheit geworden. Sie räkelten sich auf ihrem Sofa, und Lena stand am Waschbecken und scheuerte verdreckte Socken und eklige Fettränder in graugelben Nylonhemden. Zu protestieren fiel ihr nicht ein, auch wenn die Hausaufgaben darunter zu leiden hatten.
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