Die Beziehung zwischen ihnen bekommt einen anderen Rhythmus. Lena ist nicht mehr so hektisch wie früher, aber sie vermißt oft etwas. Hat das Gefühl, sie hätten etwas verloren, die Erwartung, die Spannung, sie weiß nicht was. Sie verändert sich. Manchmal hat sie das Gefühl, die Ältere von beiden zu sein, aber sie organisiert ihre Tage um Kjell. Er arbeitet zielbewußt, um sich für den Herbst einen Studienplatz zu sichern, möchte Medizin studieren. Seine Arbeit geht vor, er entscheidet, wann sie sich sehen, und sie denkt nicht darüber nach. Es ist eine Selbstverständlichkeit, über die nicht diskutiert wird.
Ihre Welt schrumpft. Sie entfernt sich von der Schule und von den anderen in ihrer Klasse. Sie verbringt die Pausen mit Kjell, sie essen zusammen und verbringen ihre Freizeit in ihrem oder in seinem Zimmer. Sie wird von ihm abhängig, von seiner Meinung über sie, und mehr denn je beschäftigt sie sich mit ihrem Körper. Hingeworfene Bemerkungen können sie schrecklich verletzen.
„Deine Beine sind zu gerade, weißt du das, Lena? Von vorne sind sie übrigens okay, und es macht ja auch nichts. Ich mag dich so, wie du bist.“
Sie ist nie auf die Idee gekommen, daß an ihren Beinen so viel auszusetzen sein könnte, und sie kann seine Kritik nicht einfach hinnehmen, ihr Gesicht wird flammend rot.
„Nein, wirklich, Lena, du bist schon komisch“, lacht er. „Du machst dir doch nichts draus?“
„Tu’ ich nicht. Das sind meine Beine.“
Danach darf er ihre Beine nicht anfassen. Wenn sie einen Rock trägt, ist sie sich ihrer Beine peinlich bewußt.
„Von vorne sind sie okay ...“
Beim nächstenmal können es ihre Brüste sein.
„Dein Busen ist zu klein, Lena, aber ich mag dich trotzdem.“
Solche Bemerkungen treffen sie zutiefst. Sie kommt sich mißgestaltet vor, bisweilen jagt ihr Körper ihr Abscheu ein. Sie spannt die Muskeln an, wenn er ihre Brüste berührt, streckt den Fußrücken und spannt die Wadenmuskeln, wenn er ihre Beine ansieht, spannt die Bauchmuskeln, hat Angst, ihr Bauch sei nicht fest genug, flach genug.
Er kann in einer Filmzeitschrift blättern und ihr das Bild eines Mittelklassevamps im Bikini zeigen. „Sieh dir die an, Lena! Sieh dir die Titten und die Beine an!“
Damit kann der Abend für sie schon verdorben sein. Er neckt sie, sie wird eifersüchtig. Es tut weh, es tut entsetzlich weh, aber das ist noch nicht alles. Tief in ihr braut sich eine brennende Wut zusammen. Ein übertriebener Zorn, der in keinem Verhältnis zu seinen Neckereien steht. Sie ist zornig über ihn und versucht dabei, sich gegen etwas in ihr selber zu wehren, für das sie keinen Namen hat. Sie reißt ihm die Zeitschrift aus den Händen.
„Wie schön. Wenn ich nicht gut genug bin, kann ich ja gehen!“ ruft sie.
Und er lacht. Er lacht schallend und zieht sie zu sich aufs Sofa. „Du bist fabelhaft, Lena. Souverän!“
„Laß mich los!“ faucht sie.
Und sie rollen herum, und er weiß nicht, daß ihr Widerstand in diesem Ringkampf echt ist. Es soll ein Spiel sein, und sie läßt es zum Spiel werden, ihr Zorn aber ist nach wie vor vorhanden. Dennoch kann sie sich nicht gegen die Hände wehren, die Wellen von Wärme durch sie senden. Danach spürt sie eine leere Sehnsucht.
„Du bist phantastisch, Lena, weißt du das?“
„Weißt du, daß du eine schiefe Nase hast, Kjell? Aber ich mag dich trotzdem. Du hast zu kurze Beine, aber das macht nichts, für mich bist du gut genug.“
Er würde sich ausschütten vor Lachen.
Sie rächt sich auf andere Art. Bleibt in den Pausen im Klassenzimmer, weicht ihm draußen aus. Albert mit anderen Jungen herum, wirft den Kopf in den Nacken, wenn er fragt, was er ihr getan hat.
„Du machst ja wohl nichts falsch, oder, Kjell?“
Sein verletztes, verständnisloses Gesicht gibt ihr das Gefühl bitterer Befriedigung, aber es schmerzt auch.
Sie ist angespannt, kann sich nie gehen lassen. Sie ist verliebter als er, abhängiger von ihm als früher. Aber sie fühlt sich nie sicher, und am schlimmsten ist die Angst, es könnte schiefgehen, die Angst vor der Schwangerschaft.
Nicht immer hat er ein Kondom.
„Ist es jetzt gefährlich, Lena?“
Was soll sie antworten? Wie soll sie das wissen? „Ich weiß nicht, Kjell.“
„Das mußt du doch wissen? Du weißt doch, wann deine sichere Periode ist?“
„Nein, Kjell. Woher soll ich das denn wissen?“
„Aber du kannst doch nicht so dumm sein!“
Sie fühlt sich elend und kindisch. „Ich glaub’, jetzt ist es nicht gefährlich.“
„Ich bin vorsichtig.“
Danach ist alles nur schrecklich. Verlegen und ängstlich wischt sie sich mit dem Zipfel ihrer Bettdecke seinen kalten Schleim vom Bauch. Sie weiß nichts, weiß nicht, ob es so sein muß. Sie denkt an Synnøves Worte. Daß es vorher am besten ist. Und sie denkt, daß das stimmt, wenn auch nicht so, wie Synnøve es gemeint hat. Nicht, weil sie Kjell gerne bis zum Wahnsinn reizen möchte. Nein, sie denkt an die Wärme. Die Wärme ist das Gute. Wenn sie spürt, daß er sie liebt, wenn er sie liebkost, streichelt, entzündet. So könnte sie die ganze Nacht verbringen. Dann öffnet sie sich, kommt ihm in ihren Zärtlichkeiten entgegen. Und es gibt diese Erwartung: diesmal wird alles anders sein. Dann kann es vorkommen, daß sie alles Störende verdrängen kann, die Angst, die Peinlichkeit, wenn er sich am Kondom zu schaffen macht. Sie konzentriert ihre Gefühle auf seinen Körper, das ist gut, weil er es gut hat. In solchen Momenten kann sie sich über seine Nähe freuen, zwei Menschen können einander nicht näher kommen.
Meistens bringt er sie nach Hause, wenn er aufwacht, aber es kommt auch vor, daß sie allein geht, weil sie es nicht übers Herz bringen kann, ihn aus dem warmen Bett und dem Schlaf zu reißen.
„Gehst du allein?“ murmelt er schläfrig.
„Ja. Schlaf du nur.“
„Und das macht dir sicher nichts aus?“
„Ganz sicher.“
Aber an solchen Abenden, wenn sie nach Hause läuft, frierend, mit geschwollenen, wunden Lippen vom Knutschen, das immer nur vorher stattfindet, mit pochendem Unterleib, draußen wund, weil seine Liebkosungen oft hart und gewaltsam sind, dann verspürt sie eine Einsamkeit, die sie nicht in Worte fassen kann.
Wenn Kjell am härtesten arbeitet, setzt sie sich an ihre Schularbeiten, mit denen sie immer im Rückstand ist, aber es kommt auch vor, daß sie irgendeine Klassenkameradin besucht. Dann merkt sie, daß sie das vermißt hat, Mädchengespräche, die gekicherten, verrückten Unterhaltungen über Jungen, Kleider, Filme und Musik, über die Schule, die Lehrer und über gar nichts. Aber sie merkt auch die Distanz zwischen ihnen. Keine von ihnen führt wohl so ein Leben wie sie. Bei diesem Gedanken schämt sie sich, und oft hat sie das Gefühl, von ihrer ungezwungenen Gemeinschaft ausgeschlossen zu sein. Im Grunde wird ihr Bedürfnis nach Freundinnen von Synnøve gedeckt. Synnøve, aus der sie einfach nicht schlau wird. Synnøve, die an einem Tag strahlender Laune und am nächsten verquer und mürrisch sein kann. Eines Abends wartet Synnøve auf sie, als sie von Kjell kommt. Forschend mustert sie Lenas blasses, angespanntes Gesicht. „Du bist ganz schön abhängig von ihm, was?“
„Synnøve“, sagt Lena verzweifelt. „Kannst du mir sagen, was eine sichere Periode ist?“
„Aber Himmel. Lena, du willst doch nicht etwa behaupten, du wüßtest das nicht? Wo bist du bloß hineingeschliddert?“
„Ich glaub’ ja, ich weiß das. Mitten dazwischen ist es gefährlich, nicht wahr? Aber ich weiß nie, wann das ist. Manchmal liegen vier Wochen dazwischen, manchmal sechs oder sieben. Einmal hat es fast ein halbes Jahr gedauert.“
„Himmel, stimmt das? Ich kann die Uhr danach stellen. Es kommt auf den Tag genau. Daß du dabei nicht durchdrehst!“
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