Anne Karin Elstad
Die Fenster der Küche gehen auf den Fjord und die Bergkette hinaus, die vor dem offenen Meer Posten steht. Das ist ein Anblick, an dem sie sich nie sattsehen kann, ganz gleich, ob es stürmt oder Stille herrscht. Ein Anblick, der in ihr eine ganz eigene Freude aufkommen läßt, aber auch Unruhe, Sehnsucht und eine sonderbare Wehmut. An diesem frühen Maimorgen liegt der Fjord unbewegt da, nur eine einzelne Eiderente schwimmt weiter draußen, zeichnet hinter sich ein vollkommen ausgeformtes V, ein Fisch schnellt empor, und dann ist wieder alles wie unberührt. Auf der glatten Wasserfläche an den Ufern entlang spiegelt sich die Landschaft. Eigentlich sollte sie von Glück erfüllt sein, so wie sie da steht, mit dem einen Kind auf dem Arm und dem anderen, dem ältesten Sohn, der friedlich am Küchentisch mit Papier und Farbstiften spielt. Sie starrt in den herrlichen Morgen hinaus, schaukelt das Kind, das nach dem nächtlichen Weinkrampf noch leise wimmert, ohne richtig bei der Sache zu sein, spürt nichts als diese bleierne Müdigkeit im Körper. Das ist einer dieser Tage, an denen sie das Gefühl hat, nicht richtig atmen zu können. Aus der Speisekammer dringen die Geräusche der Zentrifuge herüber, wo Synnøve wie jeden Morgen die Milch schleudert. Das erinnert sie daran, daß sie hier ist, immer.
Die Zentrifuge ist nicht mehr zu hören, Synnøve kommt zur Tür herein, trocknet sich die Hände an der Schürze ab, schaut auf den halbgedeckten Küchentisch.
»Werden die Männer nicht gleich kommen und ihr Frühstück haben wollen?«
»Ich bin sofort fertig«, sagt Julie ruhig.
Während sie das Kind auf ihrer Hüfte trägt, deckt sie den Tisch, und dann kommen sie nach und nach herein. Kristoffer und Jørgen, der Knecht Anders, der eine feste Anstellung auf dem Hof hat, seit Jørgen ganz klein war. Mehr Leute haben sie jetzt nicht zwischen den Erntezeiten. Zur Heuernte und im Herbst stellen sie für die Arbeiten, die draußen und drinnen anfallen, Hilfskräfte ein. Dies ist der erste Winter, seit sie hierhergekommen ist, daß sie kein Dienstmädchen gehabt haben. Mit drei Frauen im Haus müssen sie auch so über diese Jahreszeit kommen, während für das Holzfällen tageweise Hilfsarbeiter, je nach Bedarf, eingestellt wurden. Wie die Zeiten nun einmal sind, müssen sie an allen Ecken und Kanten sparen, meint Kristoffer.
Astrid steht in der Tür, und sofort quengelt der kleine Jostein und streckt die Arme nach ihr aus. Sie hebt ihn aus dem Schoß der Mutter hoch. Es versetzt Julie einen Stich, das Kind so zufrieden zu sehen. Anschauen zu müssen, wie er sich an sie klammert, die beiden rothaarigen, lockigen Köpfe aneinander geschmiegt. Der Goldjunge, denkt sie bitter und schämt sich ihrer Gedanken, aber so ist es nun einmal. Ein echter Storvik, sagt Synnøve, dasselbe rote Haar wie sie und Astrid, unverkennbar die Gesichtszüge der Storviks, dieselben hellblauen Augen, helle Haut, lange Gliedmaßen. Er ist nach Julies Vater benannt worden, den Namen Johannes wollte sie ihm aber nicht geben, so wurde er Jostein getauft. Doch was den ältesten Sohn betraf, den Erstgeborenen und Erben, das war keine Frage, er konnte nicht anders als Kristoffer heißen. Seit Generationen gibt es Kristoffer und Jørgen hier auf dem Hof. Man hielt es für Getue, wenn sie den Namen so aussprach, wie er ausgesprochen werden soll, Kristoffer. Krestafer, sagt man hier, aber in der Beziehung war sie unnachgiebig geblieben, sie wollte nicht, daß ihr Sohn, ein kleines Kind, Krestafer genannt wird. So war es schließlich ein kleiner Triumph für sie, als der Kleine, nachdem er größer geworden war und sprechen konnte, die Sache selber in die Hand nahm und sich Krister nannte.
»Krestafer heißt du«, versuchte es Synnøve immer wieder.
»Nein, Krister heiße ich, Krister«, sagte der Kleine und sah die Großmutter ernst an. »Krestafer, das ist doch der Großvater.«
So mußten sie sich damit abfinden, aber noch immer empört sich Synnøve darüber, daß der Name des Großvaters nicht gut genug sein soll. Und hat schon einmal jemand von einem Menschen gehört, der Krister heißt?
»Im Vergleich zu uns hier auf dem Hof ist er ein bißchen aus der Art geschlagen«, pflegt sie zu sagen. Ja, und damit hat sie nicht ganz unrecht. Mit dem schwarzen, vollen Haar, dem goldenen Schimmer der Haut und den braunen Augen kommt er ganz nach ihrer Familie. Seine Augen sind Synnas Augen so ähnlich, daß sie einen Schreck bekommt, wenn er sie anschaut. Im Herbst wird er vier, er ist still und artig, beschäftigt sich alleine, malt und will schon Buchstaben schreiben. Alles will er wissen, er fragt und gibt keine Ruhe, mehr als einmal hat dieses – ihr Kind – sie in Erstaunen versetzt. Jostein hatte in dem einen Jahr, das er auf der Welt ist, mehr Mühe gemacht als Krister seit seiner Geburt. Die ersten Monate schrie Jostein jede Nacht stundenlang, und sie konnte in diesem Jahr noch kein einziges Mal durchschlafen. Er hat auch ein ganz anderes Temperament als Krister, bald ist er wütend, bald lacht er, bald weint er. Oft kommt Astrid zu ihnen ins Schlafzimmer und fragt, ob sie ihn nehmen soll. Und bei ihr beruhigt er sich, sobald die Mutter aus seinem Blickfeld ist. Eines Nachts, nachdem Astrid ihn wieder einmal geholt hatte, schlich sie sich zu ihr hinüber, öffnete die Tür einen Spalt und beobachtete die beiden in der schummrigen Morgendämmerung. Astrid hatte ihr Nachthemd aufgeknöpft. Das Kind lag auf dem Bauch und war an ihrer entblößten Brust eingeschlafen. Julies erster Gedanke war, das Kind von dieser Brust wegzureißen, an der es nichts verloren hatte. Doch in Astrids Antlitz sah sie ein Glück, das sie rührte, ein Glück, vermischt mit Trauer. Sie schlich sich mit einem Gefühl davon, als habe sie etwas gesehen, das für ihre Augen nicht bestimmt war. Der Anblick verfolgte sie noch lange. Er kommt jedesmal in ihr hoch, wenn sie diesen Stich von Eifersucht verspürt, sobald Jostein seine Ärmchen lieber Astrid entgegenstreckt als ihr, seiner Mutter.
Wenn sie in sich geht, weiß sie, daß sie achtgeben muß, um keine Unterschiede zwischen ihren beiden Söhnen zu machen. Daß sie aufpassen muß, Krister nicht zuviel Platz in ihrem Herzen einzuräumen. Wie die Dinge jetzt liegen, ist es Jostein, der sie am meisten beansprucht. So sehr, daß sie manchmal das Gefühl hat, von ihm mit Haut und Haaren gefressen zu werden. Hartnäckig und widerspenstig heult er, bis er seinen Willen bekommt, und bekommt er ihn nicht von ihr, findet er jemand anderen, an den er sich wenden kann, Astrid oder Synnøve. Trotzdem hat sie das Gefühl, von diesem Kind aufgerieben zu werden. Ganz anders ist es mit Krister. Er fordert nichts, doch wenn er sie mit Synnas Hundeblick anschaut, weiß sie, daß sie ihm niemals etwas abschlagen könnte, daß sie ihn viel eher verwöhnen würde. Oft fragt sie sich, wie es möglich ist, daß das eine Kind mehr Macht über einen gewinnen kann als das andere. Ob ihre Mutter dasselbe für Synna empfand?
Am Frühstückstisch geht es friedlich zu. Achtgeben muß sie nur auf die Kinder. Die Männer sprechen über die anfallende Arbeit. Kristoffer sagt, sie müssen die Zeit bis zur Ernte nutzen und die Zäune der umliegenden Weiden reparieren. Synnøve meint, sie bräuchten ein paar Frauen zum Großreinemachen. Das sei unbedingt notwendig, da sich doch Veränderungen im Programm ergeben hätten. Allein mit Astrid könne sie es nicht schaffen, sagt sie mit einem verstohlenen Seitenblick zu Julie herüber. Julie wird es heiß, aber sie hält dem Blick stand. Auch Jørgens Augen spürt sie auf sich gerichtet, doch ihrem Blick weicht er aus.
Als sich Jørgen vom Tisch erhebt, bittet er sie, mit nach draußen zu kommen.
In der scharfen Frühlingsluft fröstelnd, steht sie vor ihm auf der Treppe. Seine ganze Gestalt, die hängenden Arme, das Gesicht, in dem sie wie in einem offenen Buch lesen kann, wenn er unglücklich ist. All das läßt Zärtlichkeit in ihr aufsteigen.
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