»Es sieht nicht danach aus, daß ein Kind unterwegs ist. Und solange es keinen Kinderwagen auf Storvik gibt, hat es wohl auch keine Eile mit der Übernahme des Hofes, denke ich mir.«
Was hat sie an diesem Abend geweint. Nachdem Jørgen eingeschlafen war, schlich sie sich in die Küche hinunter, saß dann dort die halbe Nacht und schüttete der Mutter in einem langen Brief ihr Herz aus. Vergaß völlig, daß ihre Mutter auch nicht immer so fürsorglich gewesen war.
Sie schickte den Brief ab, ohne das Geschriebene noch einmal durchzulesen. Hinterher wurde sie von einer Unruhe ergriffen, ob sie nicht mehr verraten hatte, als sie hätte tun sollen, aber bei wem sollte sie Trost suchen, wenn nicht bei der eigenen Mutter?
Als die Antwort kam, wurde ihr klar, daß sie nicht ohne Grund von dieser Unruhe ergriffen worden war. Der Mutter war es gelungen, ihr die ersten Tröpfchen Gift einzuträufeln, was die Beziehung zu Jørgen betraf. Diese Tröpfchen wurden ständig mehr, sie verfehlen ihre Wirkung nicht, wenn es zwischen ihnen kriselt. Wenn alles in Ordnung ist, sind sie vergessen. Die Briefe der Mutter, aus denen so ganz allmählich Mitleid mit der Tochter zu sprechen begann, weil sie ihr Leben an einen solchen Mann weggeworfen hatte. Weil sie seinetwegen auf eine aussichtsreiche Ausbildung verzichtete. Und hatte sie Julie nicht gewarnt, als Jørgen zum erstenmal zu Besuch bei ihnen war? Daß er schwächlich sei, daß er offensichtlich gesundheitliche Probleme habe? Und sie dagegen, Julie, habe nie eine Krankheit gehabt, der es zuzuschreiben wäre, daß sie keine Kinder bekommen könnte. Außerdem sei ihr auch kein Fall von Kinderlosigkeit in ihrer Verwandtschaft bekannt. Demzufolge mußte es an Jørgen liegen, wenn sie kinderlos blieben, meinte Helga. Das waren keine schönen Briefe, keine Briefe, die Trost spendeten, das waren Worte, die Gedanken in ihr auslösten, die sie sich nicht einzugestehen wagte.
Mehr als zwei Jahre waren sie verheiratet, bevor Krister kam. Die Geburt dauerte lange und war schwierig, sogar der Arzt mußte zur Entbindung hinzugezogen werden, aber nie wird sie das Glück vergessen, das sie empfand, als sie dalag und ihn in ihren Armen hielt. Auch nicht, mit welchem Stolz sie im ersten Sommer danach ihre Familie zu Hause besuchten. Krister war acht, neun Monate alt, als sie ihn der Verwandtschaft und den Freunden präsentierten. Das waren Augenblicke, in denen sie sich für unbezwingbar hielt. Krister wurde im September 1923 geboren, im selben Monat, in dem auch sie Geburtstag hat, ein Herbstkind wie sie.
Seitdem ist sie nicht mehr zu Hause gewesen. Die Eltern waren mit den jüngeren Brüdern und der kleinen Ingrid zu Besuch hier, als Jostein getauft wurde. Zur Taufe getragen wurde er von ihrer Mutter. Johanne hat sie nicht mehr gesehen, seit sie das letzte Mal zu Hause war. Johanne absolviert das letzte Jahr auf der Schule in Volda. Es versetzte ihr innerlich einen Stich, als sie erfuhr, daß Johanne dorthin gehen sollte. Johanne, die ihr so schöne Briefe schreibt, die Christin geworden ist, dieses Mal im rechten Glauben, einen Freund hat sie auch, aber all das soll Julie erfahren, wenn sie sich treffen. Denn Julie fährt nun nach Hause.
Jørgen war es, der vorgeschlagen hatte, daß sie nach der Frühjahrsbestellung mit den Kindern zu ihren Eltern fahren könnten, und mit dem Gedanken daran war sie leichter über dieses Frühjahr gekommen.
Seitdem Astrid die Post verwaltet, weiß sie genau Bescheid über alle Post, die abgeht und ankommt. Dies gilt sowohl für das Haus als auch für das Dorf. Gestern abend, als sie am Abendbrottisch saßen, kam Astrid mit dem fatalen Brief.
»Es ist ein Einschreiben für dich gekommen«, sagte sie und reichte Julie den gelben Zettel und einen Stift. »Es ist von deinem Vater.«
Während Julie unterschrieb, lag der gelbe Geldbriefumschlag auf dem Tisch, für alle sichtbar. Synnøve schob ihn zu Julie herüber. »50 Kronen« stand auf der Vorderseite des Umschlages, auf der Rückseite der rote Lacksiegel des Vaters.
»Fünfzig Kronen, du lieber Himmel«, sagt Synnøve.
»Ist das so zu verstehen, daß wir hier auf unserem Hof nicht gut genug für dich sorgen, Julie?« fragt Kristoffer gleichmütig, aber seine Worte sind verletzend, und zwar mehr als es Synnøves gelegentlich sind. Meistens überläßt er Synnøve auszusprechen, was gesagt werden muß, aber sagt er einmal selbst zuerst etwas, dann mit einem unerschütterlichen Gewicht, das keine Widerrede duldet, das sie erröten läßt, als wäre sie ein kleines Mädchen.
»Nein, das ist bloß Geld für die Reise«, sagt sie.
»Ja, das versteht sich«, sagt Synnøve.
Mehr wird nicht gesagt. Die Stille brütet schwer über dem Tisch. Sie schaut zu ihnen hinüber. Synnøve und Kristoffer, Jørgen und Astrid, die verschlossenen Gesichter, alle konzentrieren sich auf das Essen, nur Anders, dem Knecht, ist Verlegenheit anzusehen, während er krampfhaft auf seine Schüssel starrt. Glücklicherweise kann man sich auf Anders verlassen. Er ist loyal und trägt nicht gleich alles unter die Leute, wie es anderes Dienstpersonal tun würde.
Sie murmelt eine Entschuldigung, erhebt sich vom Tisch und geht nach oben, schleicht sich in das Schlafzimmer, wo sie in der Stille allein ist mit den leichten Atemzügen der schlafenden Kinder. Aus der Küche unter ihr sind immer noch die Geräusche von klirrenden Tassen zu hören, von Menschen, die essen.
Außer den fünfzig Kronen sind Briefe von beiden Eltern in dem Umschlag. Das ist in der Regel immer so. Ein langer Brief von der Mutter, ein kürzerer vom Vater. Dieses Mal sind es nur knappe Grüße von beiden. Die Mutter schreibt, sie freue sich auf den Besuch, die Kinder wiederzusehen, besonders freue sie sich auf den Jüngsten, »auf deinen kleinen rothaarigen Troll«, schreibt sie, und »wir werden ihn hier schon bändigen«. Der Vater schreibt vor allem von dem Geld, dieses Mal habe er eine ausreichende Summe schicken wollen, damit sie auf der Reise nichts entbehren müßten. Außerdem wolle er für sie einen Termin beim Zahnarzt in Molde machen, und für ein neues Kleidungsstück oder zwei werde wohl auch noch etwas übrigbleiben, schreibt er. Denn er verstehe, daß es für sie auch nicht immer ganz leicht sei.
Den Geräuschen aus der Küche, dem Schurren der Stühle auf dem Fußboden, dem Schlagen der Türen entnimmt sie, daß sie vom Tisch aufstehen. Dann ist es wieder eine Weile still, bis sie ihre Stimmen hört, so deutlich, als wären sie hier bei ihr im Zimmer. Starr, mit klopfendem Herzen in der Brust lauscht sie.
»Nein, es kommt gar nicht in Frage, daß du wegfährst, wo wir hier so wenig Hilfe haben«, sagt Kristoffer.
»Du kannst doch für die Tage, die ich weg bin, jemanden einstellen!«
»Und du bezahlst ihn wohl?« fragt Synnøve schneidend.
»Nein, Jørgen, du bleibst hier. Sie kann allein fahren, wenn sie unbedingt von hier weg muß. Aber daß du mitten in der Arbeit alles stehen und liegen läßt, lasse ich nicht zu. Du solltest endlich beweisen, daß du erwachsen bist, Junge, und kein Wort mehr darüber«, sagt Kristoffer, und die Tür schlägt hinter ihm zu.
»Ich verstehe euch nicht«, sagt Jørgen aufgebracht. »Ich habe schon vor langem gesagt, daß wir verreisen wollen.«
»Dein Vater hat bestimmt nicht gedacht, daß du es ernst damit meintest, mitten in der geschäftigsten Zeit wegzufahren.«
»Und wann gibt es hier nichts zu tun?«
»Du hast gehört, was dein Vater gesagt hat. Wenn die Angelegenheit so dringend ist und sie unbedingt fort muß, dann kann sie Krister nehmen und allein fahren.«
»Krister? Und was ist mit dem Kleinen?«
»Nein, sie kann unmöglich mit zwei Kindern auf eine so lange Reise gehen. Und Jostein ist noch ein Wickelkind. So erwachsen sollte sie immerhin sein.«
»Glaubst du wirklich, Julie würde ihr Kind zurücklassen?«
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