Anne Karin Elstad
Es ist Sonntag, der 28. April 1940.
An diesem Wochenende ist ungewöhnlich schönes Wetter, es erinnert schon eher an den Sommer als an den Frühling. Der Himmel hoch und blau über dem Ort mit den frisch gepflügten Äckern und dem sprießenden Grün. Das Einzige, was die Ruhe an diesem friedlichen Sonntagmorgen in aller Herrgottsfrühe stört, sind zwei deutsche Jagdflugzeuge, die tief über die Häuser streichen, ehe sie den Fjord entlang zum Meer hin verschwinden. Die Flugzeuge kommen aus Værnes, nehmen die Leute an. Denn wie zu erfahren war, haben die Deutschen den Flugplatz von Værnes eingenommen.
Später am Vormittag bildet sich am westlichen Himmel eine Wolkenbank, als wäre ein großes Unwetter im Anzug. Schwarze, unruhige Wolken, die aufsteigen und wieder sinken. Zu diesem Zeitpunkt wissen einige schon Bescheid, da ein paar Telefonverbindungen zur Stadt zustande gekommen sind. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer im Ort. Die Stadt wird bombardiert, Kristiansund brennt.
An diesem Abend finden sich Leute aus der ganzen Umgebung auf dem Kirchberg ein. Die Nächte sind bereits kürzer geworden; bei dem schönen Wetter, das jetzt herrscht, wird es nicht stockdunkel, der Ort ist nur in ein undurchdringliches blaues Licht getaucht. Die Häuser und die Berge ringsum stehen als dunkle Silhouetten am Himmel, auf den Höhen liegt aber noch Schnee. Die Menschengruppe steht schweigsam da, versammelt wie um ein Grab, Kinder, Frauen und Männer. Die Frauen jedoch befinden sich in der Mehrzahl, denn ringsum auf den Höfen sind viele Mütter mit ihren Kindern aus der Stadt einquartiert. Ihre Männer sind nicht hier, sie sind vor Ort geblieben, dort, wo sie jetzt hinschauen und nicht glauben können, was sie sehen. Es ist wie ein spektakulärer Sonnenuntergang weit im Westen. Ein tanzender Sonnenuntergang, der kein Ende zu nehmen scheint. Und über dem roten Flammenmeer Wolken, die dunkler sind als der Nachthimmel. Die Gesichter wie helle Flecke in der blauen Dunkelheit. Bei näherem Hinsehen ist eher Zweifel als Angst in diesen Gesichtern zu erkennen. Ein Zweifel, durch den die ganze letzte Zeit, diese unwirklichen Wochen und Tage geprägt waren. Eheleute, die sich vor anderen bisher niemals berührt haben, stehen Arm in Arm da. Die kleinen Kinder sind im Bett, die größeren und die dem Kindesalter fast schon Entwachsenen suchen Schutz bei ihrer Mutter oder dem Vater. Die Kinder, die sonst solche Momente, wenn sich viele Menschen versammelt haben, für Spaß und Tollerei nutzen, sind still, ganz still.
Einer jedoch steht außerhalb der Menge. Viele von denen gibt es hier nicht, aber er dort ist einer von ihnen, und alle wissen das von ihm, seit langem. Er ist der Bauer von einem der größten und am besten instand gehaltenen Höfe der Gegend. In unzähligen Diskussionen hat er Farbe bekannt, stets ein unerschütterliches Vertrauen zu Hitler zum Ausdruck gebracht und später auch zu Quisling. Niedergemacht haben sie ihn, abfahren lassen haben sie ihn, gelacht über ihn, aber meistens haben sie ihn mit dem, was er in diesen heißen Diskussionen vorgebracht hat, gar nicht ernst genommen. Eher hatten sie wohl das Gefühl, dass er sie zum Narren hielt. Denn er, Hallgrim Ås, war ein allseits respektierter Mann im Ort, und seinen Worten wurde ansonsten Gewicht beigemessen. Früher gehörte er zu den Wenigen, die hier in der Kommune für die Bauernpartei stimmten. Jahrelang saß er in der Gemeindeversammlung, bis er sich nicht mehr zur Wiederwahl stellte und Mitglied in Quislings Partei wurde. Gescheit ist er und ein guter Bauer, er ist eigensinnig und hat einen starken Willen, mit dem es so leicht niemand aufnehmen kann. Jetzt steht er hier mit seinen Leuten außerhalb der Menge und betrachtet dieses düstere Schauspiel in der Ferne, und er bleibt nicht lange. Im Davongehen dreht er sich um.
»Macht, dass ihr nach Hause kommt. Was soll dieser Zirkus hier. Und außerdem wisst ihr ja wohl, es wurde angeordnet, dass Menschenansammlungen dieser Art jetzt nicht mehr stattfinden sollen. Macht, dass ihr nach Hause kommt, ja!«
Keiner lacht mehr über Hallgrim Ås. Nach seinen Worten ist ihnen das Lachen im Halse stecken geblieben. Sie sind an sarkastische Bemerkungen aus seinem Munde gewöhnt, doch das war etwas Neues, jeder ahnt die versteckte Drohung hinter dem, was er sagt.
Nachdem er außer Hörweite ist, sagt jemand:
»Der soll sich man vorsehen, der Hallgrim, und sich nicht für zu groß halten. Denn noch haben die Deutschen uns nicht besiegt.«
Diese Worte lösen ein verbittertes Gemurmel in der Menge aus, dann kehrt wieder Stille ein. Keiner sagt etwas. Doch einer mit seiner Familie folgt Hallgrim kleinlaut nach, der Schuhmacher aus Øra.
»O ja, der arme Schlucker«, sagen sie dazu, »ja, dass der leicht hereinzulegen ist, das ist klar. Ansonsten ist er gewiss keine große Gefahr, der kann keiner Fliege etwas zuleide tun.«
Julie spürt die Wärme von Jørgens Arm auf den Schultern und das Gewicht des Kindes im Bauch. Die Angst sitzt ihr wie ein Kloß im Hals. Krister, ihr Sohn, ist dort, in diesem Inferno, ein Inferno, das muss es sein. Schreckensbilder kommen in ihr hoch, wie viele werden es nicht rechtzeitig geschafft haben, dem zu entkommen. Sie hat ihre Arme um Helene gelegt. Die kleine, zierliche Helene, die wie ein junges Vögelchen zittert. Helge steht direkt vor ihr, er wird jetzt bald zwölf, reicht ihr schon bis an das Kinn. Auch Jostein ist hier, er ist vierzehn, zu groß, um sich von jemandem umarmen zu lassen, doch er steht so dicht bei seinem Vater, dass sich ihre Schultern berühren, wenn sie sich bewegen. Jostein ist mehr als die anderen Papas Sohn, wenn er schulfrei hat, geht er Jørgen als volle Arbeitskraft zur Hand. Sogar Synnøve ist hier, gemeinsam mit Selma. Auch die beiden Alten stützen sich gegenseitig.
»Trotz allem bin ich froh, ein Glück, dass Erling und Kristoffer das nicht mehr erleben müssen«, sagt Synnøve mit vor Weinen zitternder Stimme.
Selma weint mit, lautlos in ihr Taschentuch hinein.
»Nein, ich halte das nicht mehr aus, wir gehen jetzt nach Hause«, sagt Synnøve.
»Die Frage ist nur, ob ihnen nicht noch mehr erspart bleibt«, sagt Jørgen so leise, dass Julie es kaum hören kann.
»Frierst du? Vielleicht solltest du auch nach Hause gehen?«, fragt er.
»Nein, nein, noch nicht. Gleich.«
Erst jetzt merkt sie es, es ist eher wie eine vage Ahnung, wie eine leichte Kälte, die etwas anderes ist als kühle Frühlingsluft. Denn ist nicht zwischen ihr und ihren Leuten, die bei ihr stehen, und den anderen, die hier sind, der Abstand etwas größer? Stehen die anderen nicht dichter zusammen? Ist zwischen ihnen und den Leuten von Storvik nicht mehr Platz gelassen worden? Ist das nur etwas, was sie sich einbildet, weil sie gänzlich außer sich ist, weil sie so furchtbar müde ist?
Sie merkt auch, wie Helene, um die sie einen Arm gelegt hat, fröstelt.
»Ich gehe jetzt nach Hause«, sagt Helene.
»Soll ich mitkommen?«
»Nein, bleib nur hier.«
Ob Helene dasselbe empfunden hat wie sie? Ist das der Grund, warum sie geht? Oder hat sie vielleicht gehört, was Jørgen sagte, als die beiden Alten gingen? Hatte Helene verstanden, was er meinte?
»Ach, dann gehe ich auch«, sagt sie und will, dass die Jungen mitkommen. »Sie müssen morgen zur Schule.«
»Nein, lass sie ruhig hier bleiben«, sagt Jørgen. »Was sie jetzt erleben, ist Geschichte für sie, mehr als ihnen irgendeine Schulstunde geben kann.«
Allmählich wird die Gruppe auf dem Kirchberg kleiner. Zuerst verlassen die Frauen den Platz, sie versammeln ihre Kinder um sich und gehen dann, jede für sich, zögernd, denn der Anblick dort hält sie in Bann. Jørgen schickt die Jungen nach Hause, er selber bleibt noch mit einer Hand voll Männer zurück. Es geht schon auf Mitternacht zu, aber dieses wahnwitzige Lichterspiel im Westen dauert ununterbrochen an.
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