Die Klientin, die gleich zu ihr kommen wird, ist die Mutter dieses Jungen. Stein heißt er.
Heute, wenn sie Vorfälle wie diese vor Augen hat, fragt sie sich nach dem Sinn ihrer Arbeit. Jeder Klient verlangt etwas, nimmt sich ein Stückchen von ihr, und so geht es immer weiter – es bringt nichts, denkt sie in ihren finstersten Augenblicken, wie gerade jetzt.
Trostlos, wie der Regen und das Grau dort draußen. Trostlos, denkt sie, wenn sie das triste, enge Kabuff sieht, ihr Büro, das knapp Platz für einen Klienten bietet. Wenn sie mehrere Personen empfangen muß, zum Beispiel ein Ehepaar mit Kind, ist es so eng, daß sie das Gefühl hat, kaum atmen zu können. Enge und Trostlosigkeit, augenfällig durch Unglück und Elend, die innerhalb dieser Wände ständig zugegen, zum Greifen nahe sind.
In letzter Zeit hat sie immer häufiger gedacht, daß sie es nicht mehr packt, sich sinnlos kaputtmacht. Aber wenn die Klienten vor ihr sitzen, weiß sie, daß sie es schaffen muß. Will und muß. In diesen Momenten werden ihre eigenen Alltagsprobleme zu Bagatellen, an die zu denken unanständig wäre, zu einem Nichts.
Das geht ihr auch gerade jetzt durch den Kopf, während sie die dicke Akte hervorholt. Steins Akte. »Dringend«, steht darauf. Im Herbst 1983 als dringend eingestuft. Seitdem ist dieser Fall dringend, wie viele andere. Ergebnislos, und jetzt ist Herbst 1986.
Ihre Gedanken wenden sich der Mutter zu, die gleich kommen wird. Sie war Marias Kollegin, als sie noch in der Stadtverwaltung arbeitete. Erstaunlicherweise hat die Frau es bei dieser Arbeit ausgehalten, trotz eines zerstörten Heims und eines ruinierten Lebens, trotz Scheidung, trotz des Jungen und der Probleme, die sie nach und nach mit den jüngeren Kindern bekommen hat. Seinerzeit, als Maria und sie zusammen arbeiteten – sie saßen im selben Büro –, war sie eine junge, voll ausgelastete, aber glückliche Mutter. Damals war sie die junge Frau Holte. Später sollte sie sie wiedertreffen, hier.
Außerhalb der Arbeit waren sie damals nie zusammen gewesen. Trotzdem, einen Klienten auf diese Weise zu kennen, macht die Sache zu persönlich, zu problematisch.
Sie graut sich vor der Begegnung mit ihr. Erstmals jedoch hat sie ein Angebot zu unterbreiten. Wie es aussieht, ist es ihr gelungen, einen Platz für den Jungen in einer Therapiegruppe zu beschaffen. Nach Weihnachten. Eigentlich wäre es ab sofort notwendig, es hätte schon vor vielen Jahren sein müssen, aber sie ist immer noch damit befaßt. Nach Weihnachten.
Das sind Marias Überlegungen, die Mutter betreffend, die gleich vor ihr sitzen wird. Sie schämt sich ihrer Gedanken von heute morgen. Daß sie sich durch das Mißgeschick mit der Menstruation aus dem Gleichgewicht bringen ließ! Vergessen ist auch die Angst. Ungebührliches Benehmen innerhalb dieser Wände hier. Bagatellen!
Maria ist immer wieder überrascht, wenn sie Åse Holte trifft. Sie erwartet den Anblick einer verschüchterten, gestreßten und verzagten Frau. Jedesmal durchfährt sie derselbe Schreck, als wäre das, was sie sieht, widernatürlich.
Åse Holte ist großgewachsen, schlank und attraktiv. Heute trägt sie einen knallroten Mantel, ihren roten Regenschirm stellt sie in den Ständer an der Tür. Gelassen kommt sie näher, setzt sich, öffnet die Knöpfe des Mantels.
»Möchtest du den Mantel nicht ablegen?« fragt Maria. »Es ist warm hier.«
»Nein, ich kann mich nicht allzulange aufhalten. Du weißt, die Frühstückspause...«
Ja, Maria versteht. Åse Holte kommt auch sonst nie während der Arbeitszeit hierher. Die Arbeit ist wohl das einzige, was man im Leben dieser Frau als normal bezeichnen kann.
Maria betrachtet sie. Eine frisch gebügelte weiße Bluse zu dem schönen Rock, um den Hals einen rot-weißgestreiften Schal, die Haare frisiert und ordentlich. Unbegreiflich, denkt Maria, daß sie das schafft. In ihrer Situation, immer adrett, sie will der Umwelt zeigen, daß alles in Ordnung ist. Maria fällt jedoch auf, daß das gepflegte Haar matt ist und ohne Leben, in ihrem Gesicht sieht sie ein Grau, das unter keiner Schminke zu verbergen ist, die tiefen Furchen um den Mund, die strengen Falten über der Nasenwurzel. Diese Frau vor ihr ist mindestens fünf Jahre jünger als sie, sieht aber älter aus. Die Augen hinter den rauchblauen Brillengläsern weichen Marias Blick aus, ihr abgemagerter Körper, die zitternden Hände, die die Tasche umklammert halten, sagen alles.
Ihr gepflegtes Äußeres verunsichert Maria mehr als das Bild, das sie von ihr hat, wenn sie sie nicht sieht. Denn sie weiß, diese Frau bewegt sich ständig auf einem sehr, sehr dünnen Seil, das jederzeit reißen kann.
»Was wird nun?«
Ein Schreck durchfährt Maria auch wegen dieser Stimme, die fest ist, aber niedergeschlagen und ohne Gefühl. Sie versucht, ihrem eigenen Tonfall Optimismus zu geben, Nüchternheit, während sie über die Therapiegruppe berichtet, über den Platz dort, der sozusagen reserviert ist. Aber er müsse es selber wollen.
»Jetzt will er doch nichts lieber als das. Wann also?«
»Nach Weihnachten«, sagt Maria, und jetzt muß sie dem Blick der Mutter ausweichen. »Es ist bald soweit, nach Weihnachten.«
Wieder sitzt sie hier und weiß, daß ihr Angebot zu miserabel ist, als daß es der Mutter helfen könnte, denn jetzt ist erst September.
»Das ist zu spät«, sagt die Mutter, »das ist zu spät für uns alle.«
Maria beugt sich zu ihr über den Tisch, versucht, sich eifrig zu geben, ihren Worten Gewicht zu verleihen.
»Wir haben es bis hierher geschafft, die paar Monate müssen wir nun auch noch überstehen.«
»Nein, nach Weihnachten, das ist zu spät«, sagt die Mutter mehr zu sich selbst als zu Maria. – »Das schaffe ich nicht.«
Dann blickt sie Maria direkt ins Gesicht. Ihre Augen sind hart, verzweifelt. Sie zögert einen Moment, bevor sie den Schal am Hals zur Seite schiebt.
Maria merkt, wie ihr schlecht wird beim Anblick der Flekke – lila, blaugelb.
»Ich hatte mir vorgenommen, nichts davon zu sagen. Es ist zum ersten Mal passiert, das hier. Aber verstehst du jetzt, wenn ich sage, daß es mit deinem Angebot zu spät ist?«
»War er das?«
»Letztes Wochenende, als er zu Hause war.«
»Warum hast du nicht angerufen?«
»Hätte das was geändert?« fragt die Mutter müde.
»Aber warum hat er das getan? Er hat dich doch früher nie mißhandelt?«
Da löst sich ihre Zunge, die Worte sprudeln hervor. Daß er nach Hause gekommen sei, nachdem er sich ein paar Wochen nicht hatte sehen lassen, daß sie ihn gesucht, sich wieder fürchterlich gesorgt habe.
Dann sei er nach Hause gekommen, völlig fertig. Sie habe ihn in die Wanne gesteckt, ins Bett gebracht. Fast zwei Tage habe er ununterbrochen geschlafen. Während dieser Zeit habe sie seine Bettwäsche mehrmals wechseln müssen. Geschwitzt habe er so, daß die Matratze naß geworden, die Feuchtigkeit bis zur Auflage durchgedrungen sei. Dann sei ihr der furchtbare Gedanke gekommen: Aids. Daß er infiziert sein könne. Und sie habe solche Angst bekommen, fürchterliche Angst. Er sei erst zwanzig, und die ganze Zeit habe sie die Hoffnung gehabt, daß ein Wunder geschehe. Wie etwa mit der Gruppe. Denn in letzter Zeit habe er sich das auch selber so sehr gewünscht.
Am Sonntagmorgen habe sie ihm das Frühstück gemacht, Eier, Milch, und sich gefreut, daß er so gut gegessen habe. Sie habe ihn betrachtet, ihren gutaussehenden Jungen, bei sich gedacht, daß er ihr Bester sei, von jeher ihr bravstes und am meisten hilfsbereites Kind. Und in dieser Situation, als sie ihn so gesehen habe, ausgeruht, frisch und sauber, da sei ihr all das Qualvolle wie ein böser Traum erschienen. Lächelnd und vollkommen nüchtern habe er dagesessen und sei der gewesen, der er früher gewesen war. Für einen Moment sei er das gewesen. Bis sie ihn danach gefragt habe.
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