Sie unternimmt zahlreiche Gastspielreisen, zuerst nach St. Petersburg, dann nach München, Wien und Prag. Nach Otto Brahms Tod 1912 schließen sich die Schauspieler zusammen, um das Theater weiterführen zu können. Als Direktor wird der renommierte Schauspieler Paul Wegener gewählt, für den Beirat schlägt Tilla Durieux die Schauspielerin Lucie Höflich und sich selbst vor. Sich selbst, weil sie glaubte, mit ihren Verbindungen zu Künstlerkreisen finanziell am meisten beisteuern zu können, und Lucie Höflich, damit auch eine zweite Frau vertreten ist. Sofort nach diesem Vorschlag regt sich bei den Männern Widerspruch. Frauen seien nicht geeignet, ein Amt zu bekleiden, lautet die Begründung. Auf Tillas Einwurf, dass gerade am Theater wie nirgendwo sonst die Leistungen von Frauen und Männern gleichzustellen seien, werden die Protest noch stärker. Mit der Frage, warum man sie nicht für unfähig gehalten hatte, Geld aufzutreiben, verlässt sie die Versammlung. Sie verlangt ihren Austritt, stößt aber wieder auf Widerstand, es wäre unkollegial, jetzt das Ensemble zu verlassen, wird ihr entgegengehalten. Sie bleibt und nachdem Victor Barnowsky Nachfolger Otto Brahms am Lessingtheater geworden war, spielt sie die Eliza Doolittle in „Pygmalion“ von Shaw. „Ich hatte mir für den ersten Akt einen Dialekt zurechtgemacht, der als ,Hernalserisch‘ in Wien wohlbekannt ist“, erzählt sie in ihren Erinnerungen, „in Berlin jedoch die Leute fremd und außerordentlich komisch anmutete.“32
KRIEGSBEGEISTERUNG UND PAZIFISMUS
Ein Herzenswunsch Tillas geht 1914, noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in Erfüllung – von Auguste Renoir gemalt zu werden. Der bereits gelähmte Maler wird im Rollstuhl von einer Pflegerin ins Atelier geschoben und nimmt mit seinem Interesse am Berliner Theaterleben der Schauspielerin die Befangenheit. Denn wieder hatte sie das Gefühl übermannt, nicht schön oder nicht schön genug zu sein. Diese Unzufriedenheit verschwindet, und während der Unterhaltung macht Renoir eine Bemerkung, die für Tilla nach eigenen Angaben zum Schlüsselerlebnis wird: „Tragik wird immer falsch verstanden. Solange noch Tränen fließen, ist der Höhepunkt des Schmerzes noch nicht erreicht. Erst wenn der Mensch schon wieder lächelt, dann ist der Schmerz unüberwindlich und unendlich geworden.“33
Jetzt erinnert sie sich, dass einige Kritiker an ihren Darstellungen die fehlenden Tränen bemängelt hatten, sie als „intellektuelle“ Tragödin bezeichnet und ihr als Person mangelnde Tiefe des Gefühls unterstellt hatten. Alfred Polgar hatte zu ihrer Interpretation der Maria Stuart geschrieben: „Das Defizit an Wärme liegt im Persönlichen der Durieux. Auch das Glühende ist bei ihr wie um einen eisigen Kern geschichtet, Weichheit ein Willensakt. Nur durch die Mutterschaft des Verstandes kommt, scheint es, diese Ergreiferin zur Ergriffenheit. Tränen, braucht sie welche, muss sie importieren.“34 Nun erhält sie von Renoir die Bestätigung ihrer eigenen Erfahrung, dass man Gefühle auch verschließen oder auf der Bühne ohne Tränen darstellen kann. Sie fühlt sich rehabilitiert. Renoir malt ein lebensgroßes Porträt und Paul Cassirer und Tilla sind überglücklich. Doch dann müssen beide überstürzt aus Paris abreisen. Der Erste Weltkrieg beginnt und das Bild35 bleibt zurück, es ist noch nicht trocken.
Wie auch in Wien feiert man in Berlin den Ausbruch des Krieges mit patriotischem Pathos. Menschenmengen jubeln den Soldaten zu, Bajonette werden mit Blumen geschmückt, man spricht von einem „reinigenden Stahlbad der Nation“. Selbst Thomas Mann empfindet im Gegensatz zu seinem Bruder Heinrich den Krieg als eine „Reinigung“ und als Ausstieg aus der „satten Friedenswelt“. Auch Paul Cassirer ist kriegsbegeistert. Er meldet sich als Freiwilliger, lernt Autofahren und muss Meldungen und Anordnungen an die Front befördern. Sein Einsatz wird mit dem Eisernen Kreuz belohnt. Tilla will als Krankenschwester arbeiten, aber nicht wie die Damen der Berliner Gesellschaft den Offizieren den Schweiß von der Stirn wischen, sondern in Buch, wo im Lazarett die Schwer- und Schwerstverletzten liegen. Ihre anfängliche Kriegsbegeisterung schlägt jedoch bald in Skepsis und schließlich in Pazifismus um:
„Der erste Transport traf ein. Da erlebte ich einen grässlichen Schock. Zum ersten Mal sah ich das Elend, das der Wahnsinn des Krieges über die Menschen brachte. Hatte ich bisher überhaupt darüber nachgedacht? Langsam kam ich zu der Erkenntnis, dass mein Leben bis dahin nur in engen Kurven um meine eigene Person gekreist war. Es war mir nie bewusst, wie viele Menschen hingeopfert werden für die Launen und Fehler von Machthabern.“36
Die bitteren Erfahrungen beider haben Einfluss auf ihre Beziehung. Paul, dem nun die Kontrolle über Tilla entzogen ist, schreibt böse und eifersüchtige Briefe. Tilla ist verstört, zeigt sie Pauls Bruder, dem Psychiater Richard Cassirer. Doch der meint beruhigend:„Du weißt ja, dass Paul immer ein bisschen verrückt war.“37 Als Tilla sich auf Weisung der Ärzte in Berlin erholen soll, da der zwölfstündige schwere Lazarettdienst ihre Gesundheit gefährdet, stürzt eines Abends Paul mit Gift in der Hand ins Zimmer, zertrümmert das Geschirr auf dem Tisch, schreit: „Ich nehme Gift!“ und schluckt es. Er unterstellt ihr ein erotisches Abenteuer und glaubt nicht an die Harmlosigkeit eines Ausflugs auf die Insel Rügen, wie Tilla es beschwört. Paul wird gerettet, seine Brüder aber misstrauen Tilla und geben ihr die Schuld an dem Vorfall. Paul Cassirer wird für dienstuntauglich erklärt und kehrt nach Berlin zurück. Auch er ist im Krieg Pazifist geworden. Im Kunstsalon werden nun Vortragsabende mit pazifistischer Literatur geboten, worauf die Zeitungen von einem „pazifistischen Schlupfwinkel“ berichten und eine Hausdurchsuchung durchgeführt wird. Paul, eben noch für dienstuntauglich erklärt, wird wieder einberufen und tritt in den Hungerstreik. Im Krankenhaus benimmt er sich derart auffällig, dass ihm die Ärzte völlige Dienstuntauglichkeit attestieren, doch bald darauf wird er wegen Fluchtgefahr verhaftet. Nach seiner Freilassung gelingt es dem Ehepaar Cassirer, in die Schweiz zu fliehen.
Zürich ist während des Krieges Treffpunkt zahlreicher Künstler und Intellektueller, gleichzeitig auch Zentrum von Spionage und Spekulantentum. Paul und Tilla leben, als gäbe es keinen Krieg. In Gesellschaft von Freunden und einflussreichen Persönlichkeiten genießt man Theaterabende und Konzerte, macht Ausflüge und feiert Feste. Paul kann geschäftliche Beziehungen anknüpfen, doch immer wiederkehrende Depressionen und Selbstmordgedanken werfen dunkle Schatten. Der renommierte Schweizer Psychiater Eugen Bleuler gibt Tilla den Rat, Paul nie allein zu lassen.
Nach Ende des Krieges kehrt Cassirer nach Deutschland zurück, in ein Berlin, das Max Liebermann folgendermaßen beschreibt: „Berlin ist zerlumpt, schmutzig. Abends dunkel und eine tote Stadt, dazu Soldaten, die Streichhölzer oder Zigaretten in der Friedrichstraße verkaufen, blinde Drehorgelspieler in halbverfaulten Uniformen, mit einem Wort: jammervoll.“38 Tilla Durieux wird vom „Münchner Nationaltheater“, dem ehemaligen Hoftheater, für vier Monate engagiert. Bayerns Ministerpräsident, der Schriftsteller und Politiker Kurt Eisner, hat sich persönlich für sie verwendet. Am 21. Februar 1919 geht Tilla zur Probe ins Theater, Eisner ist auf dem Weg zum Landtag. Er wird mit zwei Schüssen – in den Kopf und in den Rücken – getötet. Tilla erlebt es aus nächster Nähe mit. Es folgt die Ausrufung der Münchner Räterepublik und über die Stadt wird der Ausnahmezustand verhängt. Tilla erkrankt schwer und liegt drei Monate lang in der Münchner Klinik von Prof. Ferdinand Sauerbruch.
Ein weiteres Unglück trifft Paul Cassirer. Sein Sohn Peter erschießt sich mit achtzehn Jahren im Berliner Tiergarten. Das Motiv ist unbekannt.
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