„Paul studierte mit mir und sprach mir mit seiner Stimme, die so seltsam klang, derart eindrucksvoll die schwierigsten Stellen vor, dass ich sie endlich bezwang. Nur an einem Satz scheiterte ich immer wieder, das war der Schlusssatz des Stückes: ,Sollt es noch einmal geschehen, ich tät es noch einmal.‘ Nach meiner Abendvorstellung quälte mich Paul bis vier Uhr morgens mit diesem einzigen Satz. Ich weinte, wollte die Rolle abgeben, schrie, aber alles half nicht. Bis ich endlich gegen Morgen den richtigen Ton gefunden hatte und bei der Erstaufführung auch mit diesem Satz den Erfolg des Stückes befestigte.“28
In den ersten Jahren ihrer Beziehung mit Paul lernt Tilla den Pianisten und Pädagogen Leo Kestenberg kennen. Eine Konzertlaufbahn hatte er zugunsten seiner sozialdemokratischen Bildungsarbeit und seiner literarischen Aktivitäten aufgegeben. Bei ihm nimmt Tilla Klavierstunden, nicht mehr unter Zwang, wie in der Kindheit, sondern jetzt mit Begeisterung. Als er sie einmal fragt, ob sie ihn vielleicht bei seinen Vorträgen für Arbeiter unterstützen wolle, sagt sie sofort zu. An Sonntagvormittagen fährt sie nun mit ihm hinaus in die Hasenheide und in andere Arbeiterviertel Berlins und rezitiert Lyrik von Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Richard Dehmel und Georg Herwegh. Dazwischen spielt Kestenberg am Klavier klassische Musik. Bei einem dieser Vorträge lernt sie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg kennen, die später von ihr finanziell unterstützt wird. Der gewaltsame Tod der beiden in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg wird sie tief erschüttern.
Dass die mondäne Schauspielerin, die in den exzentrischen Kreisen der Kunstwelt verkehrt, gleichzeitig eine engagierte Sozialdemokratin ist, findet Paul Cassirers Anerkennung, aber nicht die seiner Familie. Besonders die Frauen seiner erfolgreichen und in der Berliner Gesellschaft angesehenen Brüder finden seine Verbindung mit einer mittellosen Schauspielerin unpassend und behandeln sie daher mit herablassender Nonchalance.
Nach sechs Jahren des Zusammenlebens heiraten Tilla Durieux und Paul Cassirer am 24. Juni 1910. Die gefeierte Diva der Berliner Bühnen und der reichste Kunsthändler Deutschlands sind eines der Traumpaare der Weimarer Republik. Ihre Wohnung in der Margarethenstraße mit Bibliothek, Steinway-Flügel und Gemälden von Manet, Renoir, Cézanne und van Gogh wird zum Treffpunkt der künstlerischen Avantgarde. Sie ist glücklich, Pauls Frau zu sein, genießt die Kontakte mit Künstlern und linken Intellektuellen, verspürt aber bald auch die Schattenseiten dieser Ehe. Paul Cassirer, narzisstisch und jähzornig, ist patriarchalisch anspruchsvoll, verlangt von Tilla, dass der Haushalt problemlos funktioniert und er seinen Aktivitäten ungehindert nachgehen kann. Dass auch sie einen Beruf hat und dafür hart arbeitet, interessiert ihn nicht. Ebenso wenig interessiert es ihn, dass sie oft stundenlang auf ihn wartet und dann weinend zu Bett geht, wenn er mit seinen Künstlerfreunden nächtelang debattiert und dabei vergisst, dass er mit ihr verabredet war. Auch wenn er sie immer wieder melodramatisch seiner Liebe versichert, gibt er seine zahlreichen Affären nicht auf, verfolgt Tilla aber mit quälender Eifersucht. Dennoch sagt sie, dass sie nie einen Menschen so geliebt habe wie ihn.
„Ich verdanke Paul Cassirer die schönsten und die bittersten Stunden, meine geistige Entwicklung, meine wachsenden Erfolge an der Bühne, eine unendliche innere Bereicherung, aber auch den tiefsten Kummer. Meine Augen hatten durch ihn die Herrlichkeit der Welt gesehen, aber auch die verzweifeltsten Tränen geweint.“29
EINE MODERNE SCHAUSPIELERIN
Acht Jahre ist Tilla Durieux eine von Max Reinhardts wichtigsten Darstellerinnen. Zu ihren bedeutendsten Rollen zählen selbstbewusste Frauengestalten, etwa die Wassilissa in Gorkis„Nachtasyl“, die Klytämnestra in„Elektra“ von Sophokles, Lady Milford in Schillers „Kabale und Liebe“ und die Kunigunde in Kleists „Käthchen von Heilbronn“. Die Prinzessin Eboli in„Don Karlos“ wird von ihr erstmals als normaler, leidenschaftlicher Mensch gezeigt. Statt Effekthascherei wird das Ringen um Echtheit und Wahrheit spürbar. Eine ihrer Glanzrollen ist auch die Judith in Friedrich Hebbels gleichnamiger Tragödie.
Trotz dieser Erfolge hat sie Bedenken, ihren auslaufenden Vertrag mit Reinhardt zu verlängern. Sie ist verstimmt, dass er ihr die Rollen der Penthesilea in Kleists Drama und die der Hedda Gabler in Ibsens Stück vorenthält und ihrer Konkurrentin Gertrud Eysoldt zusagt, was ihrer Meinung nach einer Fehlbesetzung gleichkommt. Außerdem scheint Reinhardt aufgrund seiner Erfolge nachlässig geworden zu sein. Der Betrieb der „Kammerspiele“ und des „Deutschen Theaters“ bedingt Komplikationen, sodass manchmal Szenen gekürzt oder gestrichen werden müssen. Tilla Durieux bemängelt auch, dass Schauspieler oft verunsichert oder gegeneinander ausgespielt würden. Ihre letzte Vorstellung bei Reinhardt endet allerdings mit einem Triumph des Regisseurs und der Schauspieler.
Reinhardts Ziel ist die Wiederbelebung des griechischen Theaters, aber nicht für ein elitäres, sondern für ein Massenpublikum. Als Schauplatz für die Tragödie „Ödipus“ von Sophokles in der Bearbeitung von Hugo von Hofmannsthal wählt er das Gebäude des „Zirkus Schumann“ mit fünftausend Sitzplätzen. Er will eine Kunst mit monumentaler Wirkung. Die Szenerie stellt an die Schauspieler schon rein stimmlich größte Anforderungen, auch ist es mühevoll, sich in dem Großraum zurechtzufinden, doch das Wagnis gelingt. Die Durieux als Jokaste, Alexander Moissi als Teiresias und Paul Wegener als Ödipus werden vom Publikum frenetisch bejubelt. Die Kritik beurteilt Reinhardts Experiment der Masseninszenierung allerdings zwiespältig. 1912 wechselt Tilla Durieux zu Otto Brahm, Max Reinhardts Rivalen, ans „Lessingtheater“. Nun spielt sie die Hedda Gabler, und zwar in der Überzeugung, dass auf der Bühne kein Stil, keine Mode existiere, sondern nur klare Menschlichkeit. Sie deklamiert nicht, sondern bringt einen neuen, zeitgemäßen Ton auf die Bühne, sie ist auch nicht auf einen bestimmten Typus spezialisiert.
Heinrich Mann, einer ihrer vielen Bewunderer, charakterisiert ihre Vielseitigkeit auf der Bühne folgendermaßen: „Sie hat alles, was modern heißt: Persönlichkeit, erarbeitet und wissend, nervöse Energie und die weite Schwungkraft des Talents. Ein Varietémädchen, das vor Geld- und Liebesschmerzen in groteskes Geheul ausbricht, und Judith, tragisch klagend um ihr Volk: Beides ist Tilla Durieux, und alles, was dazwischen liegt, Weltdame, Kaiserin, Luder, Heldin der Zeit, Heldin der Nerven.“30
Heinrich Mann ist auch überwältigt von dem komischen Talent der Durieux, vor allem von ihrer Darstellung in seinem Einakter„Varieté“. Ihr Sinn für das Komische führt sie immer wieder auch zur Kleinkunst, in die Brettl-Welt. So brilliert sie im „Kabarett der Namenlosen“ mit Friedrich Hollaender am Klavier als wasserstoffblonder Hase mit Perücke und in einem rosa Seidennachthemd mit den frechsten Gassenhauern. Die neue Generation der Schauspielerinnen ist nicht mehr auf ein bestimmtes Rollenfach wie Naive, Sentimentale oder Femme fatale festgelegt, auch nicht auf das Fach der Komikerin oder der Tragödin. Diese neuen Schauspielerinnen, für die Tilla Durieux das beste Beispiel bietet, können alles spielen. Höhepunkte ihrer Darstellungskunst, mit der sie mit erstarrten Konventionen bricht, sind die Franziska in Frank Wedekinds gleichnamigem Stück und die Katharina in Max Dauthendeys „Spielereien einer Kaiserin“.
Der Avantgardist Erwin Piscator, dessen Bühne im Theater am Nollendorfplatz mithilfe der Durieux und ihres dritten Ehemanns, dem Großindustriellen Ludwig Katzenellenbogen, finanziert wurde, bestätigt:
„Sie war niemals nur der Typ, der besondere Ausdruck einer bestimmten Zeit, einer bestimmten Theater-Epoche – niemals passée, wie so viele, die neben ihr standen. In ihrer bis heute mehr als sechzigjährigen Bühnenlaufbahn, an deren Beginn noch der Naturalismus stand, und an deren derzeitiger Strecke das absurde Theater schon nicht mehr steht, hat die hektische Art der Stile sie nie zu überrennen vermocht. Da ,Stil‘ gewöhnlich nur die Kultivierung eines Mangels, ein Substanz-Ersatz ist, hat Tilla Durieux es nie nötig gehabt, zu stilisieren. Eher sprengte sie den Rahmen, wenn der Rahmen um sie zu eng gezogen war. Das ist das ,Exotische‘ an ihr, wenngleich ihr dieses Attribut meist nur in äußerlichem Sinne zuerkannt wurde.“31
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