Aber auch hier sieht sie das, worauf die meisten nicht achten. Sie hat es im Blut, es ist zu einem untrennbaren Bestandteil ihres Lebens geworden. Auf große Entfernung kann sie einen rauschgiftsüchtigen Jugendlichen in der Menge erkennen. Sie sieht die Penner, die Prostituierten, die Zuhälter, alles, was wie ein Tumor unter der Oberfläche des scheinbar friedlichen und unbeschwerten Straßenlebens wuchert.
Vor dem Eingang zur Bahnstation ein junger Iraner, ein Knabe, mit einem Schild vor dem Bauch, einer Sammelbüchse in der Hand. »Nein zu Khomeini«, steht in roter Schrift über dem Bild des Diktators.
»Bitte, helfen politische Gefangene in Iran«, sagt er in gebrochenem Norwegisch.
Sie steckt ein paar Zehner in seine Büchse, greift nach dem Flugblatt, das er ihr hinhält, lächelt ihm schnell zu. Als sie zum Taxistand eilt, bleibt sie stehen, es läuft ihr eiskalt den Rücken hinunter, denn dort, halb versteckt in der Menschenmenge, die aus dem Bahnhofsgebäude strömt, sieht sie einen großen, schwarzhaarigen Mann, in einen eleganten langen, hellen Mantel gekleidet, einen Ausländer, der einen Fotoapparat in seinen Händen hält, einen Fotoapparat mit Teleobjektiv. Im Schutz der Menge macht er heimlich von dem jungen Iraner Aufnahme um Aufnahme.
Marias erster Gedanke ist, daß sie etwas tun muß, um das zu unterbinden, daß sie zu dem Jungen laufen und ihn warnen muß, aber die Vernunft sagt ihr, daß das nichts nutzen würde. Sicher weiß er, daß er observiert wird, oder ahnt doch, daß die Wahrscheinlichkeit dafür sehr groß ist, wenn er sich dort hinstellt. Ein Schreck durchfährt sie bei dem Gedanken, daß auch sie fotografiert wurde, daß alle, die dem Jungen Geld gegeben haben, mit ins Archiv kommen.
Als sie im Taxi sitzt, wird sie innerlich von einer großen und unbekannten Angst geschüttelt. Das geschieht in Norwegen, mitten im friedlichen Oslo. Obwohl sie es wußte, ist es ein Schock für sie, auf diese Weise damit konfrontiert zu werden.
»Herrgott, in was für einer scheußlichen Welt leben wir!« sagt sie.
Der Chauffeur antwortet nicht, betrachtet sie im Spiegel, denkt vielleicht, er habe eine Verrückte im Auto.
Maria ist zu erregt, um die Beobachtungen für sich zu behalten.
Der Taxifahrer zuckt mit den Schultern.
»Ja, mir tun die überhaupt nicht leid. Niemand hat dieses Volk hierher eingeladen, oder was? Die sollen, zum Teufel, dort bleiben, wo sie hergekommen sind und uns nicht mit ihrem Mist behelligen!«
Sie ist auf einen von der Sorte gestoßen, sie schweigt und läßt sich in den Sitz zurücksinken, zu erschöpft, um eine nutzlose Diskussion mit einem Taxifahrer zu beginnen. Auch das ist Norwegen, denkt sie.
Während Maria in dem alten, trauten Haus auf Majorstuen ihren Koffer zu Lises Wohnung hochschleppt, fühlt sie sich niedergeschlagen und müde. Aber Lise, klein, schmächtig und quicklebendig, steht in der Tür und empfängt sie mit breitem Lächeln. Sie nimmt Maria den Koffer ab, bleibt für einen Moment stehen, schaut sie an.
»Du siehst nicht gut aus. Nun ja, vorläufig ist es verboten, über Sorgen zu sprechen. Rein mit dir ins Bad, zur Toilette, Hände waschen und zu Tisch.«
Im Bad steht Maria vor dem Waschbecken, betrachtet sich eingehend im Spiegel. Stimmt, Lise hat recht, das Gesicht dort ist grau, abgespannt, sieht nicht so gut aus wie heute morgen zu Hause im Flurspiegel. Nicht hier im grellen Neonlicht in Lises Bad.
»Möchtest du Rotwein oder Rosé zum Essen?« ruft Lise aus der Küche.
»Was gibt es denn?«
»Käsesoufflé.«
»Mm, herrlich. Rosé, für mich heute keinen Rotwein. Das verträgt sich nicht mit meiner Mensis.«
»Herrgott«, sagt Lise, als sie in die Küche kommt. »Wie lange willst du dich denn noch damit plagen? Ich hab es erledigt, bevor ich vierzig war. Du solltest jetzt damit Schluß machen. Ich glaube, jedesmal, wenn du bei mir bist, hast du deine Mens.«
»Das kann ich wohl kaum abstreiten«, antwortet sie leichthin. »Wie schön du alles zurechtgemacht hast«, fügt sie hinzu, um vom Thema abzulenken. «Gott, wie gut es tut, hier zu sein.«
Maria läßt ihren Blick durch die gemütliche Küche wandern. Auf dem weißgescheuerten Tisch rote Sets, Kerzen, das hohe Küchenfenster zum Hinterhof mit den kleinen Scheiben ohne Gardinen, aber mit einem Gewirr von hängenden und auf dem Fensterbrett aufgereihten Grünpflanzen. An der Decke und an den Wänden Kupfergefäße.
»Zu dir kommen, ist das Beste, was ich kenne, Lise.«
Und das stimmt. Lise gehört zu den Menschen, bei denen sie sich geborgen fühlt, hier kann sie ganz sie selbst sein.
Lise ist seit vielen Jahren geschieden, sie hat keine Kinder. Nach und nach ist sie eine richtig selbständige Frau geworden. Ein paar Mal hat sie versucht, mit jemandem zusammenzuleben. Jetzt zieht sie es jedoch vor, allein zu bleiben.
»Ein Mann kommt mir nicht mehr in mein Haus«, sagte sie, als ihr letztes Verhältnis in die Brüche gegangen war. »Ich habe nicht vor, im Zölibat zu leben, aber nie wieder soll ein Mann über mich verfügen. Ich will selber bestimmen, wann sie kommen und wann sie gehen sollen«, sagte sie, und seither hat sie danach gelebt.
Lise ist Studienrätin an einen Gymnasium, hat einen großen, breitgefächerten Freundeskreis, geht ständig ins Theater, Kino, Konzert, zu politischen Veranstaltungen.
»Ich langweile mich nie«, sagt sie. »Dazu habe ich gar keine Zeit.«
Aber hinter dem lebensfrohen, heiteren Antlitz besitzt Lise andere Gesichter. Wie Maria weiß, gibt es noch eine ganz andere Lise. Eine Lise, die zum Vorschein kommt, wenn sie einmal zuviel getrunken haben. Eine Lise, die Angst davor hat, in dieser Stadt alt und einsam zu werden, die sich nach den Kindern sehnt, die sie nie bekommen hat. Daran denkt Maria, wenn sie Lise gelegentlich beneidet. Um ihre Freiheit, Selbstständigkeit beneidet, um diese gemütliche und aufgeräumte Wohnung, darum, daß sie in Oslo wohnt und Gelegenheit hat, alles, was hier los ist, mitzunehmen, den Puls des Lebens ganz anders zu spüren, als es Maria in ihrer Kleinstadt möglich ist. Wenn ihr Neid zu groß wird, denkt sie an die andere Lise, und sie verspürt starke Zärtlichkeit für ihre Freundin.
Nach dem Essen sitzen sie im Zimmer mit dem Rest Wein im Glas.
»Soll ich gleich noch eine Flasche aufmachen?« fragt Lise.
»Nein, bitte nicht. Ich muß an morgen denken.«
»Dann vollziehen wir zuerst unser Ritual und nehmen anschließend einen kleinen Gute-Nacht-Trunk.«
Das Ritual – jedesmal, wenn sie hier ist, dasselbe: Für die Nacht zurechtmachen, das Nachthemd anziehen, Maria bettet für sich die Couch auf, und dann bleiben sie sitzen und schwatzen, oft bis spät in die Nacht hinein. Wie zwei kleine Mädchen, mit angezogenen Beinen im Schneidersitz, jede in ihrer Couchecke.
Maria ist todmüde, jedoch genau in dem Moment, als sie spürt, daß der Schlaf kommt, schreckt sie mit einem schmerzhaften Ruck hoch, plötzlich ist sie hellwach. Sie bleibt liegen und starrt in das Dunkel, nur ein schwaches Licht von den Straßenlaternen gibt dem Raum Leben. Durch die Dunkelheit der Nacht schleichen sich Gesichter zu ihr herein. Der iranische Knabe, sein junges Gesicht, schutzlos, offen. Herrgott, er dürfte nicht älter als sechzehn-siebzehn sein. Sie sieht all die unglücklichen Jugendlichen, für die sie verantwortlich war und ist. Kreideweiße, anklagende Gesichter, schwarze, hilflose Augen, sie kommen zu ihr, die Lebenden und die Toten. In ihr die große Hoffnungslosigkeit, helfen zu wollen und nicht zu können.
Sie sei naiv, sagt Fredrik. Sie könne die Welt nicht allein retten, sagt er. Nein, das weiß sie. Dann ist sie wohl naiv.
Draußen auf der Straße beginnt eine Kehrmaschine mit höllischem Lärm zu arbeiten. Das abscheuliche Geräusch zerreißt die nächtliche Stille, und all das Unheimliche, das die Nacht in dieser Stadt verborgen hält, ergreift Besitz von Maria und raubt ihr auch heute den Schlaf.
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