Sie schluchzte auf, und die Tränen begannen ihr über die Wangen zu rinnen.
Der blasse Mann auf dem Sofa rückte unruhig hin und her und machte Miene aufzustehen — da war Nelda schon bei der Mutter. Sie hatte bis dahin mit trotzigem Gesicht gestanden, die Brauen finster zusammengezogen; nun wurde sie glühend rot und kauerte vor der Weinenden nieder, wie vorher beim Vater.
„Mama, o sei wieder gut! Mama, es tut mir so schrecklich leid, dass du dich geärgert hast“ — sie drückte ihr Gesicht an das dünne grauseidne Kaffee-Staatsfähnchen — „lass doch die Zänglein reden! Und die Tür, das kam, weil ich den Papa husten hörte, da rannte ich schnell herauf. Meine goldige Mutter, sei wieder gut, weine nicht! Du sollst nicht weinen,“ rief sie lauter, mit dem Fuss aufstampfend.
„Ich weine ja gar nicht mehr.“
Frau Rätin trocknete ihre Tränen und machte ein ganz vergnügtes Gesicht.
„Nein, denkt euch, die hübsche Agnes Röder heiratet schon bald! Die Zänglein erzählte es, ihr Mann traut. Die Hochzeit muss ich sehen! Schade, Neldachen, dass du nicht eingeladen wirst; es wäre eine Gelegenheit. Übrigens, hast du deinen Tüllrock fertig? Kommt jetzt beide, es ist über neun, ihr habt noch kein Abendbrot — ich kann nichts mehr essen, bei der Doktorin war’s sehr gut. Nimm die Lampe, Kind, unten ist’s dunkel.“
Frau Dallmer trippelte eilig die Treppe hinunter. Vor der grossen, hagern Gestalt des Vaters schritt Nelda her, die Lampe mit kräftiger Hand hoch haltend. Der Schein fiel voll auf ihre weichen gesunden Wangen und spielte über die Stirn unter den widerspenstigen aschblonden Haarringeln.
Sie hatte ein tiefes Fältchen über der Nasenwurzel.
In der guten Stadt Koblenz donnerten die Karossen. Im Kasino war grosser Ball; Militär und höheres Beamtentum gaben das zweite diesjährige Winterfest.
Wenn ein Ort auch in die Vierzigtausend geht, sämtliche Einwohner nehmen an solch wichtigem Ereignis doch teil, wenn sie auch nur auf der Gasse gaffen und sich von den vorüberfahrenden Wagen mit Schmutz bespritzen lassen. In der Kasinostrasse, vorm Haupteingang, standen die Menschen dichtgedrängt.
„Hau, die is schön!“
„Kuck mal!“
„Die in Weiss! Und die in Rosa — ne, die is nit so schön!“
„Potztausend, is die fein!“
Bei jedem Wagen, der vorfuhr und sich seines Inhalts entledigte, ging die Kritik von neuem los. Wie eine Welle flutete der Schwarm der Neugierigen näher, vorwitzige Buben schlüpften bis ans Trittbrett und stellten Betrachtungen über die Grösse der atlasbeschuhten Füsse an, die sich da hinabschwangen.
Mütter hielten ihre vermummten Kleinen in die Höh:
„Kuckt, wat feine Damens!“
„Die sind glücklich!“ dachte manch armes junges Ding bei sich, das fröstelnd in der Gosse stand, mit begehrlich glänzenden Augen, die klammen Finger in die Schürze gewickelt.
Nelda Dallmer war durchaus nicht glücklich, als sie mit der Mutter über die dunkle Chaussee patschte. Tauwetter. Sämtliches Eis geschmolzen; von den kahlen Bäumen tropfte es nieder in Lachen und Rinnsale, dass sie aufspritzten.
Beide Damen waren hochgeschürzt, darüber weite Mäntel und Tücher um den Kopf; in den plumpen Gummistiefeln steckten die dünnen, weissbestrumpften Wädchen der Rätin und leuchteten gleich Wegweisern vor Nelda her. Missmutig schlenderte diese hinterdrein. Ach, der Ball — und bei solchem Wetter! Die Mutter hatte schon den ganzen Tag lamentiert über das Opfer, das sie der Tochter bringen musste, über die unausbleibliche Erkältung und so weiter, und doch hatte sie mit fiebernder Geschäftigkeit an dem Schlachtopfer herumgeputzt. Wie ein solches liess Nelda alles über sich ergehen.
Als sie fix und fertig, im weissen Tüllkleid, unten in der Wohnstube vorm Pfeilerspiegel stand, ging der Vater mit dem Lorgnon betrachtend um sie herum.
„Du siehst gut aus, mein Kind!“
„Ach ja,“ meinte die Frau Rätin, „hier zu Hause! Aber sind wir erst da, fällt sie doch sehr ab zwischen all den reizenden Erscheinungen. Du solltest wenigstens die Blumen nehmen, Nelda,“ — sie brachte ein paar unmögliche Kornblumen herzu — „das macht gleich lieblicher.“
„Ich danke, Mama!“ hatte das Mädchen kurz erwidert und das blitzblaue Gewinde beiseite geschoben.
„Warum denn nicht?“ Und nun hatte es einen kleinen Kampf gegeben, der damit endete, dass die Mutter mit roten Bäckchen, erhitzt, vorausstapfte, und die Tochter, bleich, mit zusammengepressten Lippen, folgte — ohne Blumen.
Die Damen Dallmer besuchten stets zu Fuss Bälle und Gesellschaften in der Stadt. Ein Wagen über die Brücke kostete hin und her, mit Warten und allem, gegen zehn Mark, das war denn doch zu teuer; und da man zum Vergnügen musste, ging man einfach. Xylanders machten’s ebenso; komisch, dass man sich nie unterwegs traf! Das war so eine unschuldige List der guten Rätin. Sie lauerte hinterm Fenster, bis Hauptmanns vorüber gewandert waren, und blies dann erst selbst zum Aufbruch. Es brauchte doch keiner vom andern zu wissen, dass er zu Fuss ging; man konnte ebensogut gefahren sein.
Es war schon ziemlich spät, als Dallmers am Kasino anlangten, die letzten Wagen rasselten eben vor. Auf der Treppe waren Teppiche gelegt, hellgrau, mit pompös roten Rändern; die schmutzigen Galoschen der beiden Fussgängerinnen liessen hässliche nasse Tappen darauf zurück.
Nun waren sie in der Damengarderobe. Heiss, vollgedrängt. Ein Gewirr von blauen, gelben, grünen, rosa Toiletten. Dazwischen Mütter in steifseidnen Kleidern, raschelnd, sich blähend wie aufgetakelte Fregatten. Erregte Väter, galante Gatten draussen wartend auf dem Gang; vor der Saaltür ein ganzer Trupp junger Männer — Offiziere, befrackte Herren — sie lassen die Ausstellungsobjekte Revue passieren.
„Du — wenig weiss!“ flüsterte Frau Dallmer der Tochter ins Ohr, als sie vorm Spiegel an ihr herumzupfte. „Sehr angenehm für dich! Warte, nein, halt! Hier die Haarnadel muss ich noch mal herausziehen — und was ist denn das? Mein Gott, du hast ja unten die Falbel ganz schief aufgenäht! Nein, so kannst du unmöglich gehen! Gott, Gott, ich habe es zu Hause bei der schlechten Beleuchtung gar nicht gesehen! Nadeln, Nadeln!“
„Lass nur, Mama, es ist ganz gut so!“ Nelda schüttelte gelassen die etwas zerdrückten Röcke. „Komm jetzt ’rein!“
Die beiden drängten sich durch.
„Ah, Frau Rätin! Guten Abend! Ohne den Herrn Gemahl? Und Fräulein Nelda, so strahlend! Ganz entzückend!“
„Nein, wie reizend, dass wir uns treffen!“ sagte beglück! die gute Dallmer und schüttelte Frau Doktor Schmidt die Hand. „Sind Oberkonsistorialrats auch schon hier?“
„Freilich, da stehen sie ja! Sehen Sie nur, wie sie die Töchter wieder gemustert hat — kaum glaublich! Milchen mit dem Rosenkranz über dem finnigen Gesicht, und Tonchen in Hartrosa bei ihren starken Farben!“
„Grässlich,“ stimmte Frau Rätin zu.
Eben kam die geistliche Dame angerauscht; ihre würder volle Gestalt prangte in Seide von einer unbeschreiblichen braunen Farbe, auf ihrem, mit mächtigen Flechten gezierten Haupt bäumten sich drei weisse Straussenfedern. Rechts und links trippelten Milchen und Tonchen in Blau und Rosa.
„Ah, meine teuren Freundinnen,“ — der sonore Kanzelton hatte etwas ungemein Schmelzendes — „seien Sie gegrüsst! Welche Fügung, dass wir uns schon hier treffen! Wir wollen uns nachher zusammensetzen. Ich spiele ja keinen Whist, es verträgt sich nicht mit unserm Stand — ach, man handelt schon gegen seine Überzeugung, dass man überhaupt hier ist! Aber —“ sie zuckte die Achseln und streifte Blau und Rosa mit einem mütterlich stolzen Blick — „was tut man nicht seinen Kindern zuliebe?!“
„Natürlich, natürlich! Nein, wie einzig Fräulein Milchen und Tonchen aussehen! Wie ein Frühlingstraum!“
Читать дальше