„Nelda, Nelda!“ Der Vater klopfte leise den Scheitel der Tochter. „Das ist ein harter Kopf!“
Zugleich lächelte er aber, und es war Stolz in seiner Stimme.
„Hab ich nicht recht, Papa?“ nickte sie.
„Freilich, ganz unrecht hast du nicht — doch erörtern wir das nicht weiter!“ Regierungsrat Dallmer hustete wieder. „Als ich jung war und kräftig, dachte ich auch so wie du, aber seitdem ich alt und marode bin, heule ich mit den Wölfen. Sieh zu, wie weit du kommst im Leben, Nelda! Den eignen Weg zu gehen, ist für eine Frau noch zehnmal schwerer als für einen Mann. Du wirst dir die Seele blutig stossen und zuletzt mit geknickten Flügeln unterliegen. Mir ist bange um dich, Nelda! Ich wünschte, ich lebte so lange, bis ich dich wohl versorgt weiss. Ich bin oft sehr müde“ — ein schmerzliches Lächeln huschte um seine schmalen Lippen — „aber ich darf es nicht sein. Wenn ich meine Stellung aufgebe, was sind wir dann? Gar nichts! Das Gehalt fällt weg, Vermögen keins — wie soll es mir dann gelingen, dich standesgemäss zu versorgen? Es muss sein! Sowie du dich verheiratest, quittiere ich den Dienst.“
„Sowie ich mich verheirate,“ wiederholte die Tochter mit eigentümlicher Betonung. Sie hatte sich so hastig aufgerichtet, dass die liebkosende Hand von ihrem Scheitel glitt; nun kniete sie auf den karmoisinroten Rosen und sah ihrem Vater unruhig forschend in die Augen, die Arme über der Brust gekreuzt.
„Ich bin nicht beliebt, Papa!“ sagte sie kurz und trocken. „Ausser dir hat mich kein Mensch lieb, und ich liebe auch ausser dir keinen so, wie ich lieben könnte!“ Ihre Augen flammten auf. „O, ich könnte lieben — ja!“ Sie biss die Zähne aufeinander und schüttelte den Kopf. „Doch sie sind mir alle egal — ja, das sind sie! Sie sind Puppen mit beweglichen Gliedern und beweglichen Zungen, aber das Herz liegt tot wie ein Klumpen in ihnen.“ Sie machte eine Pause und setzte tonlos hinzu: „Ich bin oft sehr unglücklich, Papa!“
Der Kopf sank ihr auf die Brust.
Über des Vaters Gesicht huschte ein leichtes Lächeln und verschwand dann unter dem Ausdruck besorgter Liebe.
„Mein Kind, das sind die Stimmungen der Jugend; solche Unglücksgefühle lassen sich tragen. Wer von uns hätte in seinen jungen Jahren nicht das gleiche gefühlt?! Das wogt in uns und kommt und geht, aber das gibt sich, das legt sich alles; man wird duldsam, die Ansprüche sind nicht mehr zu hoch gespannt. Liebes Kind, was verlangst du von den Menschen? Du verlangst zuviel. Sollen sie alle immer nur das Herz sprechen lassen? Das würde ein schönes Durcheinander auf der Welt geben. Nein, mein Kind,“ — er strich wieder mit der heissen Hand über ihr Haar — „schick du dich in die Welt, dann wird sie dir gefallen, und du wirst ihr auch gefallen. Es geht nicht anders,“ schloss er mit einem Seufzer.
„Das ist nicht dein Ernst,“ fuhr sie auf. „Du redest nur so. Kannst du das nett finden, wenn sie im Kränzchen immer nur von Herren sprechen, und was der gesagt hat und jener, und wieviel Geld er hat und was er für eine gute Partie ist?! Und dann necken sie sich gegenseitig — und legen sich Karten und kichern — und werden rot wie die Krebse und beneiden sich gegenseitig — es ist mir zu erbärmlich! Selbst Milchen Zänglein, die doch voll Frömmigkeit steckt zum Platzen, macht auch mit. Ich kann das nicht, ich mag das nicht! Ja, einen mal ordentlich lieb haben, so recht aus Herzensgrund, dass einem nichts zu viel wäre für ihn zu tun — gar nichts — ja das mag ich! Aber so an jedem herumschnuppern — pfui!“
„Nelda, Nelda, wenn dich die Mutter hörte! Sie ist so glücklich, wenn du mit den andern Mädchen verkehrst. Es sind doch auch nette darunter; sei nicht gleich so schroff!“
„Ach,“ murrte sie, „da muss man mit ihnen eingepfercht sitzen und könnte statt dessen in die Berge oder den Rhein entlang laufen, wo einem die Brust weit wird und bessere Gedanken kommen. Ba!“
Dallmer sah in das unglücklich verzogene Gesicht seiner Tochter und musste lachen, aber er wurde gleich wieder ernst. Ein Ausdruck von Pein trat in seine Augen.
„Kind, ich will dich nicht belügen,“ flüsterte die heisere Stimme, „mir ist das Getue eben so unangenehm wie dir, es gehört aber nun einmal zum Leben, du hast ohne das keine Existenzberechtigung. Ich habe es nun bald sechzig Jahre durchgemacht, da wirst du mit zwanzig doch nicht die Waffen strecken? Mir wird oft vorgeworfen, dass ich mich von der Welt zurückgezogen habe; nun, ich bin müde, ich habe die Entschuldigung meiner Kränklichkeit, aber du —?! Du musst! Du musst dich versorgen! Willst du dein Lebenlang in abhängiger Stellung vegetieren?“
„Warum habt ihr mich nichts lernen lassen?“ stiess sie hervor.
„O, denkst du’s dir verlockend, fremder Leute ungezogne Kinder zu hüten? Als Gesellschafterin die Ablagerungsstätte für jede schlechte Laune zu sein? Du bist nicht geschaffen dafür — oder meinst du?“
Sie schüttelte sich. „Grässlich, Papa!“
„Siehst du!“ Die bleichen Wangen Dallmers überzogen sich auf den Backenknochen mit einer hektischen Röte. „Du tätest mir auch leid. Also, Nelda, immer en avant! Mühe dich, ein bisschen liebenswürdig zu sein; vom nächsten Ball bringst du mir gewiss mehr Kotillonsträusse nach Haus als sonst.“
„Über den lumpigen einen von Hauptmann Xylander bring ich’s doch nicht!“ murmelte sie.
„Ich bleibe auf und sehe sie mir noch in der Nacht an.“ Der Vater hob mit dem Zeigefinger das Kinn der Tochter in die Höhe. „Du machst mir die Freude, Nelda, nicht wahr?“
Sie sah ihm fest in die Augen, ganz lange, ganz ernsthaft — da tönte plötzlich unten im Flur eine klagende Stimme.
„Mein Gott, wer hat die Stubentür sperrangelweit aufgelassen? Das ganze Zimmer ist ausgekältet. Laura, Laura, wo stecken Sie, haben Sie das denn nicht gemerkt? Es ist ja rein grässlich, all die Kohlen, das ganze Holz umsonst! Das ist wirklich zum Weinen!“
Die Verteidigungsrede der Magd war nicht zu verstehen, nur undeutliches Stimmengewirr schallte nach oben.
Jetzt knarrte die Treppe, die Tür ging auf. Frau Rätin Dallmer kam vom Kaffee. Mit kläglicher Miene stand sie auf der Schwelle, ihre zarte Gestalt verschwand fast in dem weiten Abendmantel, ihre Nase guckte spitz und weiss aus der dunklen Kapuze.
„Es ist doch schrecklich,“ jammerte sie, „kaum kommt man nach Haus, geht der Ärger los. Nelda, du hast wieder die Tür sperrangelweit offen gelassen! Wie konntest du? Ich sage ja —“
„Guten Abend, Lorchen!“ schnitt Dallmer ihr die Rede ab.
„Guten Abend, Mama!“ kam es kleinlaut von den Lippen der Tochter.
„Guten Abend, guten Abend,“ nickte Frau Dallmer hastig.
„Nun, wie hast du dich amüsiert, Mutterchen?“ fragte der Mann.
„Ach, ausgezeichnet!“ seufzte die Rätin und sank auf den nächsten Stuhl, Mantel und Kapuze lockernd.
„Was sind das für liebe Menschen! Nur die Planke ist verrückt, rein verrückt! Die passte gut zu Nelda mit ihren verschrobenen Ansichten. Wirklich ein Skandal, wie sie geredet hat! Aber mein Gott, ich hab ja gar keine Ehre, was über sie zu sagen, wenn die eigne Tochter —“
„Mutter, wie kannst du mich mit der Planke vergleichen?“ unterbrach sie Nelda brüsk. „Die schimpft auf die Männer, weil sie keinen kriegt, und hebt das weibliche Geschlecht in den Himmel — ich schimpfe ja gar nicht, ich hebe nur nicht in den Himmel. Sie sind mir alle Jacke wie Hose!“
„Um Gottes willen!“ Frau Dallmer rang die Hände. „Was sind das für unanständige Redensarten! Die Oberkonsistorialrätin hat ganz recht, wenn sie sich über Nelda aufhält und ihr Milchen am liebsten nicht mehr ins Kränzchen liesse; man muss sich schämen. Aber ihr lasst mich ja nie ausreden! An dir, Joseph, hab ich auch gar keine Unterstützung! Ich bin wirklich eine beklagenswerte Mutter!“
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