Mit wehmütig dankbarem Lächeln sah Rätin Dallmer die junge Frau an.
„Ich freue mich, dass Ihr Herr Gemahl Nelda leiden mag! Freilich, es wäre besser, wir hätten sie nicht jedes Jahr zum Bruder meines Mannes, dem Bürgermeister auf der Eifel, geschickt; da hat sie so viel ohne Aufsicht herumgetobt. Aber Dallmer hat ja immer seine eigenen Ideen — ach!“ Sie zuckte resigniert die Achseln.
„Lassen Sie’s gut sein, Frau Rätin!“ flüsterte die junge Frau und legte ihre warme Hand auf die kalten, rastlos häkelnden Finger. „Ich muss übrigens den Damen jetzt Adieu sagen,“ fuhr sie laut fort und stand auf, „so leid es mir tut! Mein Mann erwartet mich zeitig und mein Kleinster wird schon schreien. Guten Abend — angenehme Unterhaltung! Leben Sie wohl, vielen Dank für den hübschen Nachmittag!“
Knixen und Händeschütteln. Die ganze Tafelrunde war auf den Beinen.
„Schon so früh?“
„Ach, wie schade!“
„Vielen Dank für Ihren lieben Besuch, Empfehlung an den Herrn Gemahl!“
„Ich bitte Sie, ich habe nur zu danken!“
„Kommen Sie gut nach Haus!“
Alles schwirrte durcheinander. Noch einmal Händeschütteln, sogar ein paar Umarmungen.
Frau Hauptmann Xylander eilte zur Tür. Adieu, adieu! Ich bin sehr eilig!“
„Natürlich, bei fünfen!“ bemerkte Fräulein Planke.
Während man sich drinnen wieder setzte und das Dienstmädchen Vanillencrême mit Sandtorte und obligater Pomeranzenbowle präsentierte, klinkte Frau Hauptmann Xylander die Haustür hinter sich zu.
„Gott sei Dank,“ sagte sie energisch und liess sich von dem frischen Winterwind unter die Kapuze blasen. Man wusste eigentlich nicht, warum sie ‚Gott sei Dank‘ sagte, auch nicht, warum plötzlich ein mitleidiger Ausdruck in ihre heitern blauen Augen trat.
„Armes Ding,“ kam es von ihren Lippen, und dann schüttelte sie sich, als ob ihr ein Gruseln über den Leib ginge. Ihre Schritte beschleunigten sich, sie lief fast über den hartgefrorenen Schnee. Es war nicht wahr, ihr Mann erwartete sie gar nicht, aber eine plötzliche Sehnsucht nach ihm, nach ihren Kindern hatte sie überkommen inmitten des süssen Kuchengeruchs und bitteren Redens.
Die Schlossstrasse mit ihren erleuchteten Fenstern lag schon hinter ihr, nun durchquerte sie den dunklen Schlossplatz; noch eine kleine Strecke und sie war an der Rheinbrücke. Schwarz und massig tauchte gegenüber der Ehrenbreitstein auf, daneben, einen schwachen Lichterkranz am Fuss, der Asterstein. Da wohnten sie. Auf der Brücke wehte der Wind schärfer, sie hielt den Atem an und strebte eilig vorwärts. Nun war sie drüben.
Dunkel und einsam zog sich die Chaussee nach dem Vorort Pfaffendorf; auf der einen Seite die Höhen, auf der andern der Rhein, in weiten Zwischenräumen Villen und niedrige Häuschen. Es war glatt, beschwerlich zu gehen, dazu spärlicher Laternenschein, nur ab und zu eine kläglich flimmernde Laterne. Auch ein, zwei Grad kälter war’s hier, als in den Strassen der Stadt; aber das machte nichts, es war auf alle Fälle Winters und Sommers draussen gesünder, und die Wohnungen waren bedeutend billiger. Darum wohnten auch Xylanders hier, sie machten daraus kein Hehl; ein Hauptmann mit fünf kleinen Kindern, nur mit dem Kommissvermögen, kann nicht die geringsten Sprünge machen.
Auch Dallmers wohnten auf der Chaussee; jetzt eben kam die Frau Hauptmann an dem kleinen einstöckigen Haus vorüber. Sie konnte nicht umhin, sie blieb stehen und sah zu den Fenstern im oberen Stockwerk auf — da hatte der Regierungsrat sein Arbeitszimmer. Schrecklich, dass der arme Mann so hustete! Das Winterwetter und die zugige Brücke waren Gift für ihn.
Ob Nelda zu Hause war? Die junge Frau betrat das Vorgärtchen und spähte ins niedrige Parterrezimmer; ein voller vibrierender Ton drang eben durch die Scheiben an ihr Ohr. „Ah, sie singt,“ sagte die Lauscherin und liess die schon zum Klopfen erhobene Hand sinken, „ich will sie nicht stören.“ Und dann stahl sich Frau Hauptmann Xylander zum Gärtchen hinaus und erreichte im Laufschritt die Villa, in der sie den zweiten Stock inne hatten; die Sehnsucht nach den Kindern ward immer stärker.
Kaum klingelte sie, da stürmte es auch schon die Treppe herunter.
„Das ist die Mama! Mama — Mama!“ Ein blondköpfiger strammer Junge stürzte ihr entgegen, hinterdrein zwei ebenso blonde Mädchen.
„Mama, Lollo und Vicky sind so eklig: Sie spielen immer mit ihrem dreckigen Kochgeschirr und der kaputten Anna, sie wollen nie meine Pferde sein. Mama, du musst sie hauen!“
„Huh huh, der Wilhelm,“ heulten Lollo und Vicky, „er hat unserer Anna ein Bein ausgerissen, Mama, kuck emal!“
Mit wahrem Jammergeheul hielten sie der Mutter die Puppe entgegen und klammerten sich dann schutzsuchend an die Falten des mütterlichen Kleides.
„Mama, Mama, er haut uns!“
„Pst, pst, Kinder!“
Frau Hauptmann Xylander hielt sich lachend die Ohren zu; im Gefolge ihrer kleinen Horde trat sie ins Kinderzimmer. Eine nicht gerade balsamische Luft schlug ihr entgegen. Auf der Stuhllehne vor dem eisernen Ofen hingen mehrere Windeln zum Trocknen; im kleinsten Bettchen in der Reihe der übrigen, lag Friedrich, der jüngste Sprössling des Hauses, und kreischte in den höchsten Tönen. Karl, der zweitjüngste, sass zufrieden in seinem Stühlchen daneben; er hatte einen Schuh ausgezogen und benagte diesen eifrig.
„Mein Gott!“ Die Mutter eilte auf die Wiege zu. „Wo ist denn Settchen und wo Buschmann? Ich hatte doch befohlen, keiner sollte weggehen!“
„Och die!“ sagte Wilhelm altklug. „Settchen ist nach der Apotheke gerannt, sie holt Kamillentee; Fritz hätt’ Bauchschmerzen, sagt sie. Und wie das Settchen weg war, ist der Buschmann zu seinem Schatz gegangen — ‚nur mal eben‘ hat er gesagt — er kommt so jetzt wieder. Wir sollen so lang acht geben. Hü, hott! Lollo, Vicky, wollt ihr wohl?“
Mit Donnergepolter stürzte ein Stuhl um, wie die Wilden jagten sich die drei um den Tisch. Plötzlich einstimmiges Freudengeschrei: „Mama, kuck emal, der Karl! Der Karl isst Schuhbändel — hau, Schuhbändel!“
Die mit dem Jüngsten beschäftigte Mutter drehte sich erschrocken um. Auf dem Stühlchen sass Karl, der Phlegmatiker, im ganzen Gesicht wunderlich beschmiert; die eine dicke Patsche hielt den Schuh, die andere stopfte eben das letzte Ende des abgenagten Schuhbändels ins Mäulchen.
„Es schmeckt ihm,“ jubelten die Geschwister, während die Mutter angstvoll auf ihn losstürzte.
Jetzt ging draussen die Tür; Settchen kam mit Kamillentee gerannt, auch Buschmann, breitmäulig grinsend, polterte herein. Frau Hauptmann vergass das Schelten, sie war froh, dass Hilfe erschien. Den Schweiss von der Stirn wischend, legte sie endlich Kapuze und Mantel ab; ihr rundliches Gesicht mit den Grübchen in Wangen und Kinn war hochrot.
„Hat mein Mann gesagt, wann er nach Hause kommt?“ fragte sie das Mädchen.
„Der Herr Hauptmann is ja zu Haus,“ antwortete Settchen ganz beleidigt. „Jesses, wo wär ich dann weggegangen, wann der Herr Hauptmann nit zu Haus tät sein!“
„Zu Hause?!“ Die junge Frau war wie erstarrt. „Und den Lärm nicht gehört?!“
Sie eilte durch die beiden dunklen Nebenzimmer, aus der Türritze des dritten schimmerte Licht; leise öffnete sie.
Auf dem Schreibtisch brannte die grüne Studierlampe, Bücher und Hefte lagen aufgeschlagen, Pläne und Karten. Der Hauptmann der Artillerie, Paul Xylander, sass davor, aber er schrieb nicht; er stützte den Kopf in die Hand und blickte starr, mit weit offnen Augen vor sich hin. Die Hand, die den Kopf stützte, war schlank und blau geädert, das schwarze Haar an den Schläfen von leicht grauen Fäden durchzogen. Seine Haltung hatte etwas Lässiges, sie war nicht die eines schneidigen Soldaten, eher die eines Gelehrten, der viel über Büchern sitzt. Er war ja auch der Denker unter den Kameraden, ‚ein feiner Kopf‘, wie die Vorgesetzten sagten; der Generalstäbler in spe. Woran dachte er? Ein verträumter Glanz war in den Augen, ein weicher Zug um seinen Mund.
Читать дальше