„Paul!“ sagte die junge Frau. Er hörte nicht.
„Paul!“ wiederholte sie lauter. Ihre helle Stimme hallte ordentlich erschreckend durch das stille, halbverdunkelte Zimmer, der glasklare Ton fuhr aufstöbernd in alle Winkel. „Paul!“
Er zuckte zusammen, einen Augenblick sah er sie wie geistesabwesend an, dann lächelte er und streckte die Arme nach ihr aus. „Du bist’s — ah!“
Mit einem fröhlichen Lachen bot sie ihm die glühende Wange zum Kuss.
„Du Träumer,“ scherzte sie und zupfte ihn am Ohr, „an was dachtest du? Beichte mal!“
„Ich?“ Seine Stimme hatte einen angenehmen Klang. „Lisabeth, ich dachte an dich!“
Er zog sie auf seinen Schoss und legte den einen Arm um ihren Leib, seine andere Hand schloss sich um ihre vollen, ein wenig verarbeiteten Finger.
„Meine fleissige Frau!“ flüsterte er zärtlich und hob ihre Hand in die Höhe. „Wie sie rauh ist und war mal so weich und hübsch! Sie hat sich zerschafft um meinetwillen — komm, ich will die braven Fingerchen küssen!“
Sein dunkler Schnurrbart drückte sich auf die Hand, die Frau liess es achtlos geschehen, ihre Blicke hafteten unverwandt auf seinen Schläfen.
„Mein Gott, Paul,“ sagte sie plötzlich, „du bist viel grauer geworden in letzter Zeit! Ich muss mir wirklich mal eine Stunde abmüssigen und dir die garstigen Haare ausziehen — es macht gar keinen guten Eindruck, wenn ein Hauptmann schon anfängt grau zu werden!“
Sie tippte mit dem Finger auf seinen Kopf; er wehrte lächelnd ab, das weiche Licht in seinem Auge war noch nicht erloschen.
„Meine Lisabeth, ja, die Jahre gehen!“ seufzte er leicht. „Unser Ältester ist bald zehn. Wie ich vorhin hier so allein sass, fiel mir die Feder aus der Hand; ich dachte zurück, wie ich dich kennen lernte, der junge Leutnant das blutjunge Mädchen — weisst du noch, Elisabeth, beim Walzer auf deinem ersten Ball war’s?! Du warst die Allergefeiertste; es schmeichelte mir kolossal, dass du im Kotillon zweimal einen Orden auf meine Brust stecktest.“
„Natürlich weiss ich’s —“ die Grübchen in ihren Wangen vertieften sich — „ich dachte mir gleich: den möchtest du heiraten!“
„Und weisst du,“ fuhr er ernster fort, „wie wir dann einmal miteinander durch den Wald gingen und hoch oben auf dem Aussichtspunkt allein standen und herunter sahen auf den Rhein und die Schiffe und die Häuser so winzig schienen und die Menschen ganz verschwanden? Um uns her nur die grosse Ruhe der Natur. Da drang etwas von dem göttlichen Funken in unsre Seele; wir verstummten, aber unsre Hände tasteten, bis sie sich fanden und hielten. Sag, Lisabeth, war’s nicht so?“
Er sah ihr in die Augen.
Sie erwiderte erstaunt seinen Blick und schüttelte dann vergnügt den Kopf.
„Keine Ahnung mehr! Hab ich ganz vergessen. Aber ich weiss, wie froh ich war, als du bei der Tante um mich anhieltest. Ich hatte keine Eltern mehr und keinen Pfennig, da war meine einzige Aussicht eine Heirat. Und nun noch dazu eine so gute Partie! Weisst du, Paul,“ plauderte sie weiter, „du hättest nur hören sollen, was die alte Jungfer, die Planke, schwätzte — heut auf dem Kaffee bei Frau Doktor Schmidt — huh, grässlich war’s! Ich hab ihr aber ordentlich eins drauf gegeben und gesagt, wie glücklich ich mit meinem lieben Mann und meinen Kindern bin.“
Sie küsste ihn.
„Und nicht wahr, da ich jetzt gerade so schön Zeit habe, siehst du mal mit mir die letzten Rechnungen durch? Und etwas mehr Wirtschaftsgeld gibst du mir auch für nächsten Monat! Die Mädchen brauchen Schuh und Wilhelm ein Paar neue Hosen, der alte Hosenboden geht nicht mehr zu flicken — nicht wahr, du gibst mir zwanzig Mark extra?!“
Er nickte freundlich, aber der Glanz in seinen Augen war fort. Er sah aus wie ein Ernüchterter.
Nelda Dallmer stand vom Piano auf, an dem sie gesessen hatte — die Mutter blieb immer lang auf solch einem Kaffee wie bei Frau Doktor Schmidt — aber halt, da ging doch die Gittertür am Vorgärtchen!
Ihr scharfes Ohr hatte knisternde Tritte vernommen, sie schob den Fenstervorhang zur Seite und schaute hinaus. Nichts zu sehen. Doch! Jetzt eilte eine weibliche Gestalt, kaum erkennbar, über die Chaussee. Das musste Frau Hauptmann Xylander sein, keine andere trug solch grellrote Kapuze!
„Gut, dass sie nicht herein gekommen ist,“ sagte das Mädchen laut und liess den Vorhang zufallen, „das hätte mir gefehlt!“
Sie schob den Stuhl vor den Tisch, auf dem ein halbfertiger Tüllrock lag, und fing an, unten herum eine Falbel festzunähen. Eine Weile nähte sie emsig, der blonde Kopf neigte sich tief über die Arbeit; die bescheidene Hängelampe goss ein mildes Licht darüber hin. Es war sehr still in der engen Stube. Eine Winterfliege glitt auf der Lehne des altmodischen grünen Sofas hin und her, der Regulator an der Wand tickte, Staubatome sanken lautlos auf die Visitenkarten in der Alabasterschale unterm Pfeilerspiegel. Die Nähende atmete gleichmässig; jetzt wurde der Atem plötzlich hastig, unruhig rückte sie hin und her. Als brenne der Rock, so liess sie ihn aus den Fingern fallen und reckte beide Arme hoch empor.
„Ha — — —!“ Sie dehnte sich. Ihre Blicke glitten durch das stille Zimmer mit seinen peinlich geordneten Möbeln, den schlohweissen Gardinen und dem buntgeblümten Sofateppich; mit einem Ausdruck des Unmutes liess sie die Arme sinken.
„Der verflixte Ball,“ murmelte sie und schob den Tüllrock achtlos weiter von sich. „Wenn ich nur nicht hinzugehen brauchte! Schön tanzen kann ich doch nicht. Ich mach mir auch gar nichts draus!“ Sie stemmte beide Ellenbogen auf den Tisch und legte den Kopf zwischen die Hände. „Ich wünschte, ich könnte einmal sein, wie ich wollte, mich ordentlich ausrennen und dann —!“ Sie stiess mit den Ellenbogen fest auf die Platte und presste die Lippen zusammen. So sass sie scheinbar regungslos, aber ihre Nasenflügel zitterten, und der Blick der grauen Augen hatte etwas Unterdrücktes, heimlich Brennendes.
Dumpf und hohl klang jetzt anhaltendes Husten durch die Zimmerdecke, mit einem Satz war sie auf den Füssen und zur Tür hinaus. Sie liess diese hinter sich offen und sprang eilig die Treppe hinan; oben, vor der Stube des Vaters, stand sie einen Augenblick still, ängstlich horchend. Wie er hustete! Leise öffnete sie, noch war es dunkel drinnen.
„Nelda, bist du’s?“ fragte eine heisere Stimme.
„Ja, Papa!“ Sie antwortete sehr heiter. „Kann ich dich ein bisschen besuchen? Wart, ich zünde Licht an!“
Das Streichhölzchen sprühte auf, die Lampe brannte und zeigte die durchaus einfache Einrichtung von Regierungsrat Dallmers Arbeitszimmer. Da war ein Stehpult, daneben ein kleines Tischchen mit Akten bedeckt; an der andern Wand ein Bücherregal, darüber in Lithographie Kaiser Wilhelm I., rechts von ihm Bismarck, links Moltke. An dem Fenster Häkelgardinen; vor dem lederbezogenen Sofa ein schmaler gestickter Teppich — karmoisinrote Rosenbuketts, blaulila Veilchengirlanden, giftgrüne Füllung. Das war alles.
Mit einem behaglichen „So“ kauerte sich Nelda auf dem gestickten Teppich nieder und legte die Arme auf den Schoss des Vaters. Der Regierungsrat hatte sich aufs Sofa gestreckt, er sah sehr müde und erschöpft aus; die Hand, mit der er jetzt zärtlich der Tochter die Haare aus der Stirn strich, war heiss und trocken.
„Papa, du hast wieder zu viel gearbeitet,“ sagte das Mädchen und haschte nach der Hand auf ihrem Scheitel. „Lass da liegen, Papa, es tut mir gut!“
Er liess die Hand auf dem blonden Kopf ruhen; sie schwiegen alle beide, bis Nelda plötzlich unvermittelt hervorstiess: „Nimm doch deinen Abschied, Papa; was quälst du dich? Ich mag gar nicht auf den Ball gehen. Wir wollen in die Berge ziehen, am liebsten nach Manderscheid, wo der Onkel wohnt. Es ist herrlich da! Wenn du den ganzen Tag im Wald bist und der Eifelwind dir um die Ohren saust, dann wirst du gesund, Papa, so wahr ich Nelda Dallmer heisse! Lass doch die Schinderei!“ fuhr sie heftig fort. „Siehst du, ich mag gar nicht auf den Ball gehen — nein, ich mag nicht!“ Sie warf den Kopf zurück. „Wenn ich mit dir in den Bergen herumstreifen könnte, das wär mir tausendmal lieber! Weisst du, Papa, wie ich noch ganz klein war und ihr Gesellschaft hattet, und ich mich unter unsern Küchentisch verkroch? Und als du mich da hervorholtest, weil ich drinnen ‚Händchen geben‘ sollte, schrie und strampelte ich — ‚ich wollte nicht bei die Affen‘ — haha, Papa, akkurat so ist mir’s heut noch!“
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