Konnte er sich nicht in der Haft vergriffen, das Schreiben für einen Geschäftsbrief gehalten haben? Nichts würde erklärlicher sein als das. Wenn er seinem Sohne gegenüber einfach so thäte, als wäre er seines Irrtums sofort inne geworden und hätte die Zuschrift gar nicht gelesen, so würde man ihm auch glauben müssen! Wann sah man denn auch bei Geschäftsbriefen nach der Adresse? In den feltensten Fällen doch! Gewöhnlich beeilte man sich, die Umschläge so schnell als möglich aufzuschneiden, weil man die richtige Adresse für selbstverständlich hielt ...
Er besann sich nicht mehr, nahm den Brief und schlitzte ihn mit der Papierschere auf. Kein Zug in seinem Gesicht verriet seine innere Bewegung. Die Notwehr, in welche ihn die Kämpfe um die Ehre seines Namens versetzt hatten, liess ihn schliesslich zum Äussersten greifen und alle Bedenken beiseite setzen.
Zweimal hintereinander durchlas er fliegend die wenigen Zeilen — mit zusammengepressten Lippen, aber innerlich mit Jauchzen. Er übersah ganz das Wort „Bankerott“, dessen Gebrauch er von seiten dieses Mädchens in einer anderen Lage für unverschämt erklärt hätte — seine Augen hafteten nur auf dem Satz: ‚Ich gebe Ihnen also Ihr Wort zurück.‘ Dann wurde seine Aufmerksamkeit ganz und gar von der Nachschrift in Anspruch genommen.
Ei, was für eine Neuigkeit! Wie rücksichtsvoll kam man ihm doch entgegen. Sollte er wirklich nicht in der Lage sein, sein Versprechen morgen nachmittag zu erfüllen, so konnte man sich ja immer noch auf diese Einwilligung der Schreiberin berufen: dass sie den besonderen Wunsch geäussert habe, das Geld noch länger in der Fabrik zu lassen.
Und wenn es auch nur eine Ausrede war — Zeit brachte Rat.
Mit derselben geschäftsmässigen Miene steckte er das Schreiben wieder in den Umschlag und legte es abermals beiseite. Es war ihm nun eine förmliche Wonne, gegen den lästigen Besucher nicht mehr besondere Rücksicht üben zu brauchen. Denn nichts schien ihm natürlicher, als dass dieser Alte mit der ehrwürdigen Miene ein ganz schlauer Mann sei, der mit diesem Frauenzimmer, das sich in seine Familie hineindrängen wollte, unter einer Decke steckte.
Vielleicht ein Komplott, um noch irgend welche Erpressungen zu machen? ... Ausbeutung meiner Lage, welche genau zu kennen sie sich einbilden, dachte er bei sich. ... Und in diese Sippe hat sich mein einziger Sohn begeben! Nun wird er wohl genug für immer haben.
„Ihr Mündel ist doch auch mit allem einverstanden?“ fragte er plötzlich mit so harter Stimme, dass Vater Wilhelm überrascht aufblickte. „Sie vertreten zwar Ihre Interessen, und sie ist noch nicht grossjährig. Aber hier liegen die Verhältnisse so eigentümlich ...“
„Ich verstehe Sie vollkommen, mein Herr. Sie werden sich morgen davon überzeugen können, dass ich nur die Vorteile meiner Enkelin im Auge habe. Ich habe dem Obervormundschaftsgericht Rechnung abzulegen, sonst niemandem in der Welt.“
„Schön ... Guten Morgen!“
Vater Wilhelm zögerte noch. „Ich hätte noch eine bescheidene Frage ... Hat sich mein ältester Enkel, dessen schlechte Seite ich zur Genüge kenne, in irgend etwas gegen Herrn Bandel vergangen? Sie sagten vorhin — —“
„Herr Bandel duldet keine Diebe in seinem Hause. Er hatte den sauberen Herrn bis gestern noch nicht erkannt, sobald er aber die Geschichte mit dein Lotterielos erfuhr, liess er ihn durch den Diener hinauswerfen. Zu weiteren Mitteilungen fühle ich mich nicht verpflichtet. Sie werden wohl selbst zu der Einsicht kommen, dass der einzig Bedanernswerte mein Sohn ist. Wenn Ihre Enkelin plötzlich aus eigenem Willen erklärt, sie gebe meinem Sohne sein Jawort zurück, so können wir das nur komisch finden.“
„So, hat sie das gethan?“
„Ja — schriftlich sogar ... Das wäre ungefähr dasselbe, als hätte jemand gestohlen, und wollte nun die Ausrede gebrauchen, er wäre kein Spitzbube, der gestohlene Gegenstand sei vielmehr nur an seinen Händen kleben geblieben ... Im Namen meines Sohnes erkläre ich Ihnen nun, dass wir vollständig mit dem Zugeständnis Ihrer Enkelin einverstanden sind und die Verlobung als aufgehoben betrachten. Sollten noch irgend welche weiteren Ansprüche erhoben werden, so werden wir uns selbstverständlich als Leute von Erziehung und Bildung zeigen, die zur Wahrung ihres Rufes zum grössten Entgegenkommen bereit sind. Ich selbst betrachte die ganze Handlungsweise meines Sohnes als eine Verirrung, deren Ursachen in seiner Jugend und Unerfahrenheit zu suchen sind. Das dürfte ihn vollständig entschuldigen.“
„Dasselbe darf ich wohl mit Recht von meiner Enkelin behaupten. Sie war nahe daran, von dem Irrlicht ihres Herzens in einen gefellschaftlichen Sumpf gelockt zu werden.“
„Wie soll ich das verstehen?“ brauste Treuling nun wieder auf. „Sie werden doch nicht etwa meine Familie damit meinen ...“
„Gott bewahre! Unter ‚Gesellschaft‘ verstehe ich die Lüge, die sich hinter der Bildung so häufig verbirgt. Ich gehöre nicht zur Gesellschaft, denn ich habe in meinem Leben noch nicht gelogen. ... Guten Morgen!“
Er verneigte sich leicht, nahm alle Kraft zusammen und ging gemessenen Schrittes würdevoll hinaus, trotzdem er hätte weinen mögen.
Treuling war jäh zusammengezuckt. Er wollte noch etwas sagen, unterliess es aber. Er lachte nur unterdrückt hinter ihm her, als die Thüre sich geschlossen hatte.
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