Max Kretzer
Berliner Sittenbilder. Polizeiberichte. Zweiseelenmenschen
von
Saga
Berliner Sittenbilder. Polizeiberichte. Zweiseelenmenschen
© 1883 Max Kretzer
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711502617
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
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Die nachfolgenden drei Erzählungen sind vor etwa dreissig Jahren entstanden und als Vorläufer meiner grossen Berliner Romane zu betrachten, was ich hier besonders für die Herren Literarhistoriker anführe, denen mein Entwicklungsgang vielleicht von Interesse ist. Sie erschienen zuerst in der damaligen „Berliner Bürgerzeitung“, dessen Feuilleton von Otto v. Leixner geleitet wurde, der, als ich ihm die Fabrikgeschichte „Der alte Andres“ einreichte, ein starkes Talent in mir entdeckt haben wollte. Ich muss ihm nach seinem Tode noch dankbar dafür sein, dass er den Mut hatte, die Sittenbilder zu einer Zeit zu veröffentlichen, als das Lesepublikum äusserst prüde war und sich mit Wonne in die romantischen Erlebnisse der Marlittschen Mansardentanten und Märchenprofessoren vertiefte. Insbesondere verdient auch die Verlagsbuchhandlung Dank dafür, dass sie sich zu einer Neuauflage entschlossen hat, nachdem das Buch schon seit langem völlig vergriffen ist. Eine gründliche Durchsicht schien mir notwendig zu sein, weil ich die Erzählungen damals im Fluge niedergeschrieben hatte, und zwar unter dem Drucke grosser Armut.
Charlottenburg, im April 1911.
Max Kretzer.
Polizeibericht. In der Nacht vom 10. zum 11. stürzte sich ein Mädchen vom Louisenufer aus in das Engelbecken. Die herrschende Dunkelheit veranlasste, dass es durch den sich gerade in der Nähe befindlichen Wächter im Verein mit mehreren Schiffern nur als Leiche ans Ufer gebracht werden konnte. In den Taschen fand man ausser einem Portemonnaie mit drei Talern Inhalt einen einfachen Ring mit dem eingravierten Namen Emmy. Die Leiche wurde nach dem Obduktionshause befördert.
In allen Strassen hatte er sie gesucht. An jeder Ecke fragte er, ob man nicht ein blondes Mädchen von auffallender Schönheit gesehen habe, und immer, immer nur waren ein kurzes Kopfschütteln und ein mitleidiges Lächeln die einzige Antwort.
Wenn die Morgensonne ihr goldenes Licht in sein ärmliches Zimmer warf, dann war sein erster Gedanke bei ihr; wenn sie abends blutrot hinter dem Häusermeer verschwand, dann war sie es, zu welcher der letzte Strahl die Grüsse eines einsamen Mannes trug. Wenn in der Nacht alles zur Ruhe gegangen, kein Laut im Hause sich regte und nur hoch oben im vierten Stock beim matten Lampenschein wie schon seit Jahren er, über seine Bücher gebeugt, dem Geiste neue Nahrung gab, — dann war sie allein es, für die sein heisses Gebet sich den Lippen entrang, als er das Fenster öffnete und seinen Blick zum hellen Sternenhimmel emporschweifen liess. Dann überkam ihn jene unendliche Sehnsucht, die jeder von uns mindestens einmal im Leben empfunden hat, der in lautloser Nacht, das Herz voll zum Überströmen, im Gefühle seiner Einsamkeit Trost bei den Sternen gesucht hat. Dann wünschte er sich Flügel, sie zu suchen; kein Mensch sollte es mehr wagen, sie mit begehrlichen Blicken anzusehen. Nur er allein, er, ihr Bruder, der um sie gelitten, für sie gearbeitet und gedarbt hatte, wollte sie wieder haben. Dann aber trat die Wirklichkeit wie zum Hohn wieder in ihre Rechte, und halblaut murmelte er das Lied von Rückert vor sich hin:
Um Mitternacht
Hab’ ich gewacht
Und aufgeblickt zum Himmel;
Kein Stern vom Sterngewimmel
Hat mir gelacht
Um Mitternacht.
Um Mitternacht
Hab’ ich gedacht
Hinaus in dunkle Schranken;
Es hat kein Lichtgedanken
Mir Trost gebracht
Um Mitternacht.
Er war ein armer Student der Medizin und wohnte in einer elenden Gasse. Alle Tage, wenn er nach dem Kolleg ging, machte er einen weiten Umweg, nur um bei einer Bettlerin nicht vorübergehen zu brauchen, der er nichts geben konnte, weil er selbst nichts hatte.
Als er vor vier Jahren mit seiner Schwester von seinem kleinen Heimatstädtchen Abschied nahm, da konnte er weiter nichts auf den Weg mitnehmen, als den Segen seines alten Vaters und die Liebe zu seiner Schwester.
„Sorge für sie, beschütze sie, Reinhard,“ sagte der Alte. „Arbeitet, Kinder, denn Arbeit schändet nicht. Du willst studieren, Junge? Nun gut, — des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Es wird dir aber sauer werden, ich meine das Leben, nicht das Studium, denn das wirst du überwältigen, du hast was gelernt. Und nun behüte euch Gott, Kinder, und wenn ihr eines Tages erfahren solltet, dass euer Vater nicht mehr lebt, dann grämt euch nicht, aber ehrt sein Andenken, wie ihr das eurer Mutter geehrt habt.“
Damit hatte er ihnen den Rücken gewandt, denn er wollte seine Tränen verbergen.
Wie verlassen hatten sie sich gefühlt, als sie in Berlin ankamen und das hundertfältige Gewirr einer Weltstadt sie bereits auf dem Bahnhof umfing. Wie neugierig all die Blicke waren, die die Leute auf seine Schwester gerichtet hatten!
„Sieh doch diesen wunderschönen Blondkopf, — allerdings noch etwas kindlich.“
„Je jünger, desto schneller ihr Glück; sie wird bald seidene Kleider tragen,“ drang es an sein Ohr. Das Blut stieg ihm in die Wangen, er drehte sich um, denn diese Stimme kam ihm bekannt vor. Aber lächerlich. Wen sollte er hier auch kennen? Wie hatte sie sich an ihn geschmiegt und wie stolz war er in dem Bewusstsein, als sie jetzt die Strassen durchfuhren, in all dem brausenden Gewirr des Daseins, das um sie wogte, ihr ein Fels zu sein, der sie beschütze. Wie hatte er in der ersten Zeit um seine Existenz gekämpft, — aber immer stand ihm das Wort des Dichters vor Augen: Mensch sein heisst ein Kämpfer sein. — Emmy war es bald gelungen, in einem grösseren Geschäft als Verkäuferin einen Platz zu bekommen. Ihre gute Bildung, ihre Schönheit, ihre Bescheidenheit machten sie bei jedermann beliebt, so dass der Gehalt, den sie bezog, bald gross genug wurde, die Ansprüche beider zu befriedigen. Jetzt konnte sich Reinhard mit aller Kraft auf das Studium der Medizin werfen. Privatstunden, die er in einigen Familien erteilte, brachten ihm so viel ein, um seine kleinen Nebenausgaben an Büchern usw. bestreiten zu können. Er bewohnte mit seiner Schwester zwei kleine Zimmer in einer abgelegenen stillen Gasse.
Als er eines Tages wie gewöhnlich vor Eröffnung des Kollegs im Vorgarten der Universität auf- und abging, klopfte ihm jemand auf die Schulter, und eine bekannte Stimme redete ihn an. Im Nu durchzuckte es ihn: Das ist dieselbe Stimme, die damals auf dem Bahnhof gesagt hat: Wird bald seidene Kleider tragen. Er drehte sich um. Ein ehemaliger Schulkamerad stand vor ihm, der Sohn eines reichen Fabrikbesitzers seiner Vaterstadt. Fritz Brand studierte ebenfalls Medizin. Er war ganz dazu geschaffen, jedem Weibe den Kopf zu verdrehen. Von der Natur verschwenderisch ausgestattet, besass er die elegantesten Manieren und jenes einschmeichelnde Wesen, das in derselben Weise abstossen kann, wie es anzieht. Reinhard hatte sich vorgenommen, sich während seines Studiums soviel als möglich isoliert zu halten, schon seiner geringen Mittel wegen; er war daher wenig erbaut von dieser neuen Bekanntschaft. Aber er kannte Fritz Brand noch schlecht. Eines Sonntags, als die Geschwister zu Hause waren, machte Fritz Brand seinen Besuch, um sich nach dem Befinden seiner schönen „Landsmännin“ zu erkundigen, und — Emmy war gefangen.
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