Max Kretzer - Die Betrogenen

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"Sie taugen alle nichts, diese Söhne reicher Väter, die arme Mädchen zu bethören suchen. Baue nie auf eines Mannes Wort, wenn er höher steht wie Du. Lerne sie verachten, hassen, verabscheuen, wenn sie sich Dir mit Hintergedanken nahen. O, Du weißt noch nicht, was es heißt, betrogen zu werden, mögest Du es nie erfahren …" Maria Seidel weiß, wovon sie redet, als sie der jungen Jenny Hoff diese Ratschläge gibt. Hat sie doch selbst ein uneheliches Kind, das von der «Engelmacherin» Frau Sandkorn betreut wird. Und soeben hat sie – welch ein Schock! – dessen Vater wiedergesehen, den jungen Rothers, Sohn des Fabrikbesitzers, der soeben stolz seine Braut aus den Flitterwochen nach Hause geholt hat: niemand anderen als Marias beste Jugendfreundin Louise Wilmer. Die wiederum begegnet noch am gleichen Tag dem neuen Kassierer der Fabrik – Marias Bruder Robert – und erinnert sich an ihn. Sie beschließt, ihn nach der scheinbar verschollenen Freundin zu befragen. Die Dinge geraten ins Rollen und allmählich öffnet sich ein Abgrund unter ihr … Jenny Hoff wiederum schlägt die Ratschläge Marias in den Wind, bis sie schließlich in ein anderes «Gewerbe» gedrängt wird – als erster deutscher Autor überhaupt widmet sich Kretzer in «die Betrogenen» auch dem Milieu der Großstadtprostitution. – Kenntnisreich in allen Berliner Schichten und Kiezen und besonders im Milieu der Industrieviertel bewandert und mit scharfer Beobachtungsgabe versehen, lässt Kretzer das Schicksal der Erniedrigten und Betrogenen lebendig werden. Unter anderem aufgrund dieses Romans hat der berühmte Literaturkritiker und Schriftsteller Hermann Bahr Kretzer den «Berliner Zola» genannt. Doch anders als Zola schildert er Leid und Not der Welt nicht mit dem kalten Auge des sezierenden Wissenschaftlers, sondern mit dem engagierten Herzen des Humanisten und Reformers.-

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Max Kretzer.

Die Betrogenen

Berliner Sitten-Roman

Vierte Auflage.

Saga

Die Betrogenen

© 1882 Max Kretzer

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711502600

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com

Erster Theil.

Vorwort zur dritten Auflage.

„Die Betrogenen“ war der erste „Berliner Roman“, in welchem der Versuch gemacht wurde, Stadt und Menschen realistisch erfasst wiederzugeben. Wie weit das dem Verfasser gelungen ist, hat die Kritik mit seltener Einmüthigkeit festgestellt. Mancher, der dieses Buch zum ersten Male in die Hände bekommt, wird vielleicht erstaunt sein darüber, dass in demselben schon Vieles enthalten ist, was Nachahmer dramatisch und novellistisch verwerthet haben. Der Verfasser freut sich der Anregungen, die er nicht nur in diesem Roman, sondern auch in seinen späteren Werken gegeben hat.

Charlottenburg.

Max Kretzer.

Erstes Kapitel.

In der Fabrik.

„Nun, Oswald —.“

„Mein lieber Junge —?“

„Du starrst ja seit zehn Minuten bereits mit einer Aufmerksamkeit nach der Fabrikuhr hinüber, als sollte Dir das verwitterte Zifferblatt zum neuesten Objekt Deiner ohne allen Zweifel erhabenen Studien dienen — o, und was muss ich sehen, Du rauchst nicht? Verzeihe, wenn ich vergass, aber dieses verzwickte Ornament, diese zopfige Idee ... Du wirst begreiflich finden —.“

Alexander Plagemann, erster Mustermaler der Teppichfabrik von Rother und Sohn, einer der respektabelsten Firmen ihrer Branche, erhob sich bei diesen Worten hinter seinem, gleich einem riesigen Zeichenbrett schräg aufsteigenden Arbeitstisch, stiess das Malbrett von sich, spülte schleunigst den Pinsel aus und schritt eilfertig zu einem kleinen Wandschrank nach der hintersten Ecke des mässig grossen Ateliers. Man hörte das Drehen eines Schlüssels, das Quietschen einer Thür, dann legte Alexander in seinen grünen Plüschschuhen lautlos denselben Weg zurück, die Hand beschwert mit einem Kistchen.

Der Genremaler Oswald Freigang stand noch immer am breiten Fenster in seiner alten Stellung, neben dem Arbeitsplatz seines Freundes. Er hatte den rechten Ellbogen auf die Umrahmung einer Scheibe gestützt und blickte über die vorgestellten Pappstücke, die den unteren Theil des Fensters zur Dämpfung des Lichts verdeckten, hinüber nach dem im Bau begriffenen villenartigen Wohnhaus von Rother und Sohn, das sich, noch nicht vollendet und doch schon prunkend, an der Strasse breit machte, und nach den langgestreckten Fabrikgebäuden jenseits des kiesbedeckten Platzes. Während des Zeitraumes von zehn Minuten hatte sein Auge das Bild vor sich vollständig erfasst: die zellenartig aneinandergeketteten einstöckigen Hallen, bedeckt mit treibhausartigen Dächern aus zolldickem, getrübtem Glase, das jeden Einblick in das hundertfältige Weben und Leben unter ihm unmöglich machte; das vierstöckige Gebäude dahinter; den daranstossenden Garten mit spärlichem Baumwuchs; die dahinter liegende halb schmutzig-braun, halb saftig-grün erscheinende Wiesenfläche, scharf begrenzt von der Silberfarbe der Spree, die sich dort in ihrer ganzen Breite ausdehnte. Ein Dampfer, der sich mit seiner buntbesetzten Menge, zusammengesetzt aus Uniformen, schwarzen Röcken, luftigen Mousselinkleidern, blendendweissen Hüten und farbigen Sonnenschirmen, wie ein schimmerndes Riesenbouquet auf leicht bewegten Wellen ausnahm, zog tiefe, dunkle Furchen, und sein Keuchen und Aechzen drang schwerfällig in gleichmässigem Takte herüber. Auf der andern Seite des Wassers fand das Bild einen theilweise scharfen Abschluss durch tiefdunkelgrüne Baumgruppen, hinter denen eine lange Allee von gleichmässig emporstrebenden Pyramidenpappeln sich langweilig dahinzog. Am Ufer lagen mit herniedergelegten Masten die plumpen Kähne der Flussschiffer, gleichsam spottend der Hand ihres Lenkers, der ohne Wind hier nicht von der Stelle kam. Dazwischen, wie eine Fortsetzung des Ufers bis weit in den Strom hinein, machten sich die zusammengeschlagenen Baumstämme der Flösser breit, wie ein natürliches geradliniges Netz, auf dem ein einsamer Angler mit seiner bildsäulenartigen Ruhe den Eindruck eines Markpfahls machte. Und über dem Ganzen lag brütend die hohe Vormittagssonne eines heissen Junitages und versetzte den Luftraum allmählich in den Zustand eines glühenden Dunstkreises, der mit versengender Schwere auf Natur und Menschen lastete und dieses harmlose Bild mit seinen schweigsamen, verschlossenen Häusern, mit den unbeweglichen Bäumen und Sträuchern, dem halbverdorrten Rasenteppich und dem langweilig erscheinenden Gewässer zu einem Stück vereinsamten Landlebens machte. Nur dort links hindurch, wo das Auge die Glasdächer der beiden am nächsten liegenden steinernen Kästen gleichsam wie durch eine oben offen stehende Schiessscharte entlang streifen konnte, da, wo sich unterhalb zweier zusammenstossenden Baumkronen ein Stück des wolkenlosen Himmels in ungetrübter Bläue scharf abzeichnete, zeigte sich in weiter Ferne ein Theil Berlins mit seinen Schloten und Thürmen. Da dampfte und qualmte es, als stiesse die Riesenstadt ihren Athem aus, erdrückt vom Lärm und der Arbeit des Tages. Brücke spannte sich an Brücke, Haus presste sich an Haus. Thurm ragte neben Thurm und sog mit seinen glänzenden Spitzen und Kuppeln begierig das weisse Licht der Sonne auf, so dass feurige Sterne am hellen Tage schimmerten. Wer dieses Stück des norddeutschen Babel sah und die noch fehlenden kannte, der vernahm im Geiste das Tosen und Rollen der Räder, das Zittern der Häuser, das Surren und Summen der rastlos bewegten Menge mit ihrem Stossen und Drängen: jenes halb grollende, dumpfe Brausen, das wie ein halbunterdrückter, tausendfältiger Schrei nach täglichem Brode klingt.

Oswald Freigang war in seiner stummen Betrachtung nahe daran, sich über den letzteren Punkt philosophischen Betrachtungen hinzugeben, als seines Freundes Unterbrechung der Atelierstille ihn daran erinnerte, dass es allerdings wieder nothwendig sei, einen Blick auf die grosse Fabrikuhr zu werfen. Sie zeigte auf zehn Minuten vor Zwölf. Noch ganze zehn Minuten! Dann begannen sich jene Steinzellen da drüben zu entleeren, und er konnte das Feld seiner realistischen Studien durch den Anblick eines Schwarmes Arbeiterinnen zur Genüge erweitern. Vielleicht fand er unter ihnen irgend ein prächtiges Modell, dessen goldblondes Haar, dessen ebenmässiger Wuchs und plastischer Körper unter geistiger Verwilderung, unter verschossenen Tüchern, geflickten Kleidern und verblichenen Taillen nicht gelitten hatten. Vielleicht auch sah er jenes blonde Kinderantlitz, jenes räthselhafte Weib, das es bemutterte, von denen er gestern Abend in der alten Taverne unten am Wasser so seltsame Dinge gehört hatte, vielleicht —.

Ja, Alexander Plagemann hatte Recht; sein Freund hatte vorhin mit einer Ausdauer nach der Uhr gestarrt, als hätte er nie vorher eine derartige kreisrunde Platte mit schwarzen Ziffern und Zeigern gesehen, und doch wollte er nur die Minuten an ihr zählen!

Oswald Freigang hatte eine Faible für Alles, was die schmutzige Blouse und Jacke der Arbeit trug. Seitdem Menzel die Welt mit seinem „Eisenwalzwerk“ überrascht hatte, war in dem ziemlich unbekannten Dasein Oswalds, das er bis dahin geführt hatte, eine Radikalwandlung vorgegangen. Er vollendete die ungesunde, schablonenhafte Salonscene, die er gerade auf der Staffelei hatte, erst gar nicht, sondern fing an, bei seinen wohlerzogenen Freunden und Gönnern im Geheimrathsviertel dadurch in Verruf zu kommen, dass er das lebhafteste Bestreben zeigte, sich mit Vorliebe in jenen Kneipen und an jenen Orten zu bewegen, wo nach Ansicht seiner bisherigen Verehrer die Luft durch Schnapsdunst und üblen Tabaksgeruch den Aufenthalt eines gebildeten Menschen unmöglich mache. Man sagte, dass er sich in allen Fabriken umhertreibe, dass er in allen Werkstätten derselben zu Hause sei, dass jeder Vorstadtwinkel sammt lebendem Inventar seinem Skizzenbuch einverleibt sei, und dass kein verwittertes Gesicht eines Mannes des vierten Standes, der Anspruch auf Originalität machen durfte, vor ihm sicher sei, des Abends beim Heimkehren von der Arbeit durch Geld und gute Worte auf offener Strasse überrumpelt zu werden, um wie ein Schlachtopfer als Modell nach dem Atelier zu folgen.

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