Max Kretzer
Die Sphinx in Trauer
© 1903 Max Kretzer
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711502785
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Seit zehn Minuten war ich gestorben. Trotzdem sah und hörte ich alles, was um mich vorging. Ich litt unter jenem seltsamen Zustand des Alpdrückens, in dem man zu ersticken vermeint, laut um Hilfe rufen möchte und doch nicht die Kraft findet, dem Organismus irgendwelches Leben abzugewinnen. Und dieser Zustand war um so fürchtertlicher, als er minutenlang anhielt, — Minuten, die mir zur Ewigkeit wurden, bis ich, gefühllos für die Außenwelt, da lag und nur die schreckliche Gewißheit hatte, mit wachen Sinnen nicht mehr zu sein.
Ich wollte mich bewegen, — es gelang mir nicht; ich wollte den Fuß erheben, — ich vermochte es nicht; dann die Hand, — dasselbe fruchtlose Bemühen. Mit aller Kraft wollte ich dem Kopf eine Bewegung geben, — dieselbe bleierne Schwere, die mich gefesselt auf meinem Lager hielt. Und je lebloser meine Glieder waren, um so aufgeregter wurde mein Bewußtsein. Es war der Verzweiflungskampf des Geistes mit dem Körper, der Seele mit dem Leib. Die Seele wollte sprechen, der Geist wollte verkünden, aber die rohe Kraft des Fleisches zerstörte ihre feinen Saiten und unterdrückte den leisesten Klang.
Die Erde triumphierte über den Himmel und zog alles Schwere an, was von oben herabkam, um sich dem Staube zu vermählen.
So verglich ich meinen Zustand, der meiner Phantasie unbegrenzte Weiten gab, obwohl ich in einem kleinen, halbdunklen Raum lag, gegen dessen niedrige Decke ich fortwährend starrte. Rechts stand das Bett meiner Frau, getrennt von dem meinigen, so daß sich in dem Zwischenraum bequem ein Mensch bewegen konnte.
Schläft sie noch? war mein Gedanke. Weshalb liegt sie denn heute gerade so fest, wo ein Zuruf von ihr tausend Wonnen für mich wäre?
Ich lauschte gespannt. Kein Atemzug wurde hörbar. Aber vielleicht täuschte mich mein Ohr, denn sie hatte stets einen leisen Schlaf. Trost kam über mich: sie wird sich erheben, meinen Zustand erkennen, an mir rütteln und mir das blöde glotzende Tier von der Brust reißen, dessen Last mir die Kehle zuschnürt. Dann werde ich einen befreienden Atemzug tun, sie jubelnd zu mir herniederziehen und heilig geloben, nicht mehr die halbe Nacht in der Studierstube zuzubringen, brütend über den Geheimnissen der Hypnose. Auch ein Arzt war ein Mensch, der sich hüten sollte, über die Kraft hinauszugehen.
Als das unheimliche Schweigen anhielt, kam mir die Überzeugung von meiner Verlassenheit. So klar mein Bewußtsein war, so sehr glaubte ich Ursache zu haben, daran zu zweifeln. Träumte ich, oder wachte ich? Was war mit mir geschehen? Weshalb sah ich die Decke dort oben, weshalb brach sich das Licht in meinen Augen, weshalb wußte ich genau, wo ich mich befand? Aber weshalb konnte ich nicht rufen, mich nicht bewegen, durch nichts betätigen, daß das Leben in mir gewaltsam nach Ausdruck ringe?
Wir bewohnten ein altes Haus im Zentrum Berlins. Seit zehn Jahren betrieb ich hier meine Praxis, die ich von einem alten Sanitätsrat übernommen hatte, nachdem ich seine Nichte geheiratet hatte. Unser Schlafzimmer war niedrig und ging nach einem schmalen Hof hinaus, in dem während des ganzen Tages das Licht dämmerig wie in einem Abgrund lag. Um die hinteren Zimmer heller zu machen, hatte man unter den Fenstern sogenannte Lichtfänger angebracht, große, blitzende Bleche, die wie Scheinwerfer auf das Halbdunkel wirkten.
Oben an der Decke spiegelte sich viereckig der Schein; und in ihm leuchtete gerade über mir der braune Schnörkel der gemalten Verzierung. Auf ihm hatte mein Blick immer zuerst geruht, wenn ich des Morgens erwacht war und mich behaglich reckte. Aus seinen Linien hatte ich mir mit der Zeit einen phantastischen Kopf gebildet, der sich meinem Gedächtnis so eingeprägt hatte, daß ich imstande gewesen wäre, ihn aus der Phantasie zu zeichnen.
Der Anblick dieses Schnörkels wurde mir zur Hoffnung. Denn sah ich ihn jetzt wie vor zehn Jahren, so waren meine Sinne gesund, pulsierte mein Herz noch, war das Reich des Todes nur ein Schattenspiel, heraufbeschworen durch meine körperliche Lähmung. Und im Geiste sah ich num das ganze Zimmer vor mir: den großen, breiten Eichenschrank, der meine Garderobe enthielt, die mächtige Waschtoilette neben dem Fenster, die rosa Ampel in der Mitte der Decke, die schmale Tapetentür, die zum Ankleideraum meiner Frau führte und des Nachts halb geöffnet blieb, weil Irma stets Angst vor Dieben hatte. Ich sah den alten Stahlstich an der Wand, Venus, von Amoretten gehuldigt — eines der vielen Bilder aus dem Nachlaß des Sanitätsrates, die zu Dutzenden in der Wohnung umherhingen. Jetzt hörte ich auch deutlich das Ticken meiner goldenen Uhr auf dem Nachttisch, das mir zum vertrauten Geräusch in der Stille des Zimmers geworden war.
Es war zu Beginn des Sommers. Wir schliefen stets bei offenem Fenster. Und als ich einen frischen Lufthauch verspürte, der sich über die Dächer in den Hof verirrt hatte, durchschauerte mich der freudige Gedanke: Du lebst, du lebst!
Entferntes Glockengeläute drang in das Zimmer. Es war Sonntag; man läutete also zur Vormittagskirche. Dann wurde die Stimme meines Jungen laut. Er pfiff vergnügt, daß es über den Hof schallte. Gleich darauf sagte meine Frau: „Ruhig, Vater schläft noch.“ Das Pfeifen verstummte.
Dann rief die alte Köchin nach der Herrin. Sogleich kreischte der Papagei, und aus der Tiefe des Hofes drang eine fremde Stimme herauf. Alles das vernahm ich wie von sonderbaren Schallwellen getragen; deutlich, aber doch wie aus der Ferne kommend, etwa wie durch ein langes Gewölbe, aus dem jeder Laut hohl an die Ohren dringt.
Mein Bewußtsein bekam einen Stoß: Ich wurde über meinen Zustand wieder schwankend. Der Geist wollte die körperlichen Fesseln sprengen; er hämmerte mit Macht von tausend Schläfenkräften, aber ungeahnte, dunkle Mächte hielten ihn im Bann.
Meine Phantasie arbeitete ungeheuer, aber wie begrenzt, als wären ihre Schwingen durch Zauber gebrochen. Ich war selbst Arzt und wußte mir nicht zu helfen; ich fand nicht einmal eine Erklärung für meinen Zustand. Irgendein Wort der Erkenntnis schwebte mir auf der Zunge, aber meine Lippen waren verstummt wie im Grabe.
Plötzlich hörte ich deutlich die Tür öffnen und ebenso leise wieder schließen, dann ein Kleid bedächtig an mir vorüberrauschen, dem Ankleidezimmer zu. Es war meine Frau, die vorbeihuschte, weil sie den Schlafenden nicht stören wollte. Hinter der Tapetentür aber konnte sie sich nicht enthalten, leise zu trällern. Daran erkannte ich sie. Sie mußte heute besonders gut aufgelegt sein, denn Singen war nicht gerade das Zeichen ihrer heiteren Seite.
Ich wollte seufzen, aber kein Gott gab mir meine alte Stimme.
Weshalb singt sie gerade heute? war mein Gedanke. Sieht sie denn nicht, daß ich hier hilflos liege, gestorben bei lebendigem Leibe?
Als sie wieder zurückkehrte, bannte sie ihre Schritte vor meinem Lager. Unheilvolle Ahnung mußte in ihr aufgestiegen sein. Sie beugte sich lautlos über mich, rief mehrmals meinen Namen, rüttelte an mir und rief aufs neue: „Schläfst du? Männe! Was ist dir denn?“ Dann legte sie das Ohr dicht an meinen Körper, lauschte mit angehaltenem Atem und starrte in meine offenen Augen. Noch nie hatte ich einen ähnlichen Ausdruck in ihrem Gesicht gesehen, das mir nun wie fremd erschien. Ihre sonst schönen Züge waren plötzlich entstellt; aber es war nicht die Entstellung durch Schmerz allein, die aus ihnen sprach. Es war mir, als huschte blitzartig ein Freudenstrahl über ihr Antlitz, ungefähr gleich der Sonne, die sekundenlang mit ihrem Glanz eine dunkle Wolke durchbricht.
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