Max Kretzer
Roman
Viertes Tausend
Saga
Mut zur Sünde
© 1909 Max Kretzer
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Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711502853
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Die grossen Leidenschaften sind selten wie die Meisterstücke.
Balzac
Am Abend des 2. Dezember hielt sich Frau Ernestine Frobel auffallend lange in ihrem Geschäftszimmer auf, ohne jedoch ihren gewohnten Platz an dem mächtigen Diplomatentisch einzunehmen, über dem das Licht sonst regelmässig Punkt 7 Uhr zu erlöschen pflegte, falls aussergewöhnliche Umstände es nicht eher bedingten. Sie durchschritt vielmehr aufgeregt das Zimmer — diesen ausgedehnten Raum, der mit seinen drei breiten Fenstern etwas Saalartiges hatte und in seiner ganzen Ausstattung mit dem schweren Teppich, dem Ruhebett mit türkischer Decke, den bequemen Sesseln und den seidenen Übergardinen überwiegend einen privaten Charakter zeigte, so dass man ihn eher als eine Fortsetzung der Wohnung nebenan hätte betrachten können. Nur der eintürige Geldschrank in der äussersten Ecke, ein elegantes Regal mit etikettierten Buchkartons und sonstige, von einem grossen Kaufmannshause unzertrennliche Dinge zeugten von dem geschäftlichen Eifer, der hier tagtäglich entwickelt wurde und sich durch die geöffnete Tür gleichsam hinüberspann zu dem grossen Kontor hinten, wo sich zwei Reihen bereits verlassener Doppelpulte, nur noch schwach von einer einzigen Deckenflamme beleuchtet, aus dem gähnenden Dunkel hervorhoben.
Im kleinen Nebenkabinett, das die Verbindung nach dort herstellte, arbeitete als Letzter noch Herold, der alte, biedere Herold, der schon unter dem seligen Chef seine verschiedenen Gros Stahlfedern in aller Ruhe verschrieben hatte und dem im Laufe der Jahre beim Lampenlicht die letzten Haare allmählich vom blanken Schädel gefallen waren wie der dünne Schnee von einer Bergeskuppe, den der Sturmwind ins Tal hinunterfegt. Die goldene Brille etwas weit auf die spitze, vom Lampenschirm grün angehauchte Nase gerückt, vergass er nicht, über sie hinweg zeitweilig besorgte Blicke nach dem erleuchteten Nebenzimmer zu werfen, falls seine wasserblauen Augen nicht den Weg gerade nach der Wanduhr nahmen. Denn obwohl in jahrzehntelanger Zucht daran gewöhnt, sich der alten Gewohnheit zu beugen, die ihn nach dem Ultimo über dem Privatkonto der Frau Chef länger als sonst hier festhielt, noch mehr dem eisernen Willen dieser seltenen Frau da drinnen, die als Muster von Pflicht und Herzensgüte gelten konnte, erschien ihm für seine mürben Knochen die Tagesarbeit diesmal jedoch ein wenig zu ausgedehnt — gerade heute, wo sein Schwiegersohn zu Besuch kommen wollte und, wie immer bei dieser Gelegenheit, ausnahmsweise ein saftiges Filet zu erwarten war.
Etwas Aussergewöhnliches musste Frau Frobel bewegen, denn noch niemals hatte er ihre stattliche Gestalt den Lichtschein der geöffneten Tür so oft durchkreuzen sehen wie jetzt — selbst in jenen schweren Tagen nicht — mit Schauern dachte er daran —, als der Zusammenbruch der alten, angesehenen Firma C. D. Frobel zu befürchten war und ein Sturm die Seele dieser Frau aufgepeitscht hatte, der für alle älteren Angestellten, die um ihr Brot bangten, etwas Erschütterndes hatte.
Es war so still in den Räumen, dass man nur das Rauschen des Kleidersaumes hörte, denn obgleich Frau Frobel, die einst so überschlanke Frau Frobel, allmählich üppige Formen angenommen hatte, zeigte sie doch die Geschmeidigkeit der eleganten Dame, und so vernahm man kaum ihre Tritte, die obendrein durch Teppich und Dielenbelag gedämpft wurden. Nur von draussen schallte das schon im Erlöschen begriffene Leben der stillen Kanalstrasse herein, das sich wie ein dumpfes Grollen der anbrechenden winterlichen Nacht ausnahm, die auch in dieser wenig arbeitsamen Gegend Berlins allmählich nach Ruhe verlangte. Dann machte sich ein Räuspern des Alten bemerkbar, das entschieden der Ausdruck einer Art verhaltenen Aufmuckens sein sollte. Und dazwischen hinein stahl sich nun ein leiser, langgezogener Seufzer der Frau, der das feine Knistern ihres Taftkleides begleitete und sich bis zu Herold verlor, der nun erst recht nicht den Mut fand, sich mit einem „ergebenen Diener“ zu melden, um seine Bitte für heute anzutragen. Vor einer Stunde etwa hatte ihn Frau Frobel ersucht, noch „einige Minuten“ zu bleiben, wonach denn glücklich eine Viertelstunde nach der anderen vergangen war. Und während er hin und wieder, diesmal unruhiger als zuvor, die Feder eintauchte und die Buchung fortsetzte, brachte er den Seufzer mit der Wohnung zusammen, die man allgemein im Geschäft „das Lazarett“ nannte, weil fast die ganze Familie aus kranken Menschen bestand: aus den Nachkommen einer degenerierten Rasse, die teils mit diesem, teils mit jenem Mangel behaftet waren.
Frau Ernestine selbst hatte diese Bezeichnung schon zur Zeit gebraucht, als die nun Erwachsenen noch Kinder waren und sie selbst noch mehr Zinn dafür hatte, die Vergehen der Natur durch Liebe, Güte und ewige Geduld auszugleichen.
Und der biedere Herold, der so gern sprach, wenn ihn etwas bewegte, blickte unwillkürlich durch das Fach des Pultaufsatzes der Stelle zu, wo tagsüber Frobel junior seinen dunklen Krauskopf über die Papiere beugte und so oft sein hübsches Gesicht zu ihm erhob, wenn es sich um Auskunft über schwierige geschäftliche Dinge handelte, die in sein zerstreutes Gehirn nicht gleich hinein wollten. Und schon hatte er die gewohnte Frage auf den Lippen: Nicht wahr, mein lieber Herr Günther, — die Frau Mama hat wohl wieder recht ihre Sorgen drüben? als er sich noch rechtzeitig seines Alleinseins bewusst wurde und mit einem Lächeln den Augen wieder die Richtung nach unten gab. Dabei erfüllte ihn aber etwas wie ein stiller Neid gegen den Abwesenden, der seine Lampe schon längst ausgedreht hatte.
Dieser junge Herr Günther hatte es gut —: er schenkte seiner Mutter keine Minute mehr über Kontorschluss und flog mit dem ersten Glockenschlag aus, und zwar seit Wochen schon. Wohin, das mussten die Götter wissen, weshalb sollte er es auch nicht tun — er, der einzige Gesunde unter dem Nachwuchs, der Temperamentvolle und Lebenslustige, der nur am Tage die Beharrlichkeit seiner Mutter zeigte, um sie dann am Abend gehörig abzuschütteln! Gott hatte ihr diesen blühenden Knaben geschenkt (sie selbst hatte es ihm, dem alten Vertrauten, in einem Augenblick der Glückseligkeit in überschwenglicher Weise zugerufen), und er und die älteren Köpfe im Geschäft, die Anteil an der Familie nahmen, hatten sich darüber gefreut, dass dem gesunden Blute der Mutter diesmal zum Siege verholfen war.
Bis hierher war Herold in seinen Gedanken gekommen, als Frau Frobel auf die Schwelle des Zimmers trat und mit ihrer tiefen, melodischen Stimme, die etwas von dem Klang einer Heroine hatte, ihn zu sich herein bat. Als dann aber die Uhr acht schlug, rief sie erstaunt aus: „Schon so spät? Aber mein lieber Herr Herold, weshalb sagen Sie das nicht! Entschuldigen Sie nur, aber ich bin heute wirklich sehr zerstreut.“
Herold tat das, was brave Angestellte bei solcher liebenswürdigen Offenheit ihres Chefs immer zu tun pflegen: er lächelte krampfhaft und behauptete mit gemachter Überzeugung, dass eine derartige Verzögerung durchaus nichts auf sich habe. Dann brachte er die Papiere in seinem Pulte unter, wischte die Feder sauber aus, nahm die Brille ab, die er etwas umständlich in das Futteral steckte, und ging auf seinen steifen Beinen, mit dem Buch in der Hand, zu Frau Frobel hinein, denn es war Gebrauch, dass das Privatkonto, in dem vertrauliche Dinge standen, an jedem Abend hier eingeschlossen wurde.
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