Max Kretzer
Roman
Saga
Der irrende Richter
© 1914 Max Kretzer
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711502914
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Als der Landgerichtsrat Sonter die Durchsicht des Aktenstückes in Sachen Goland kontra Goland beendet hatte, erhob er sich von seinem bequemen Rohrsessel und ging durch das nebenan liegende Speisezimmer hinaus auf den Balkon, um die Blumen zu betrachten, die, wohlgeordnet, in fast gleichmässig hohen Töpfen die steinerne Brüstung dermassen schön zierten, als hätte die sorgende Hand eines Gärtners mit Verständnis gewaltet.
Es war im Juni, und die Vormittagssonne brannte schon heiss, so dass Sonter es unter der herniedergelassenen, blaugestreiften Markise als eine Wohltat empfand, sich, wie gewöhnlich bei seinem Studium, ledig der zu sehr beengenden Kleidungsstücke zu befinden, was ihn (er hatte es auf Umwegen erfahren) bei den Bewohnern des gegenüberliegenden Hauses in den Ruf gebracht hatte, noch immer ein an Bewegungsfreiheit gewöhnter Junggeselle zu sein, der es mit seinem losen Aufzug nicht so genau nehme. In dieser stillen Strasse des bereits auf Charlottenburger Gebiet liegenden Westens, wo schon ein vorübersausendes Auto die Menschen aus ihrer Ruhe schreckte, sahen sich die Leute gegenseitig in die Fenster und versuchten, schon aus den täglichen Gewohnheiten der Nachbarn deren Beruf und Lebensweise zu ergründen.
Sonter, der unter dem gelben Alpakajackett die Weste vermissen liess, zeigte sich auch ohne Stehkragen, weil dieser ihn zumeist bei seiner häuslichen Arbeit genierte, was wohl mit dem etwas kurz geratenen Halse zusammenhing, auf dem der massive, prachtvolle Napoleonkopf etwas schief sass, so dass dadurch der Eindruck einer leichten Verwachsung hervorgerufen wurde. Es war aber lediglich eine Angewohnheit des Landgerichtsrats, das Herrscherhaupt etwas seitwärts zu neigen, weil er auf dem rechten Ohre besser hörte als auf dem linken.
Sonter schritt bedächtig von einem Blumentopf zum andern, die ganze Brüstung des viereckigen Balkons entlang, der nur so gross war, dass vier Menschen, sitzend, ihn hätten ausfüllen können. Sein Gesicht glitt dabei über die Blüten der Rosen und Geranien hinweg, die abwechselnd ihr dunkelrotes und rosa Farbenspiel zeigten, und entschieden mussten ihn die Leute für einen zärtlichen Blumenfreund halten, der seine Liebe zur Flora auf diese Art äussern wolle. In Wahrheit waren seine Gedanken nur bei den Ehescheidungsakten Goland kontra Goland, die ihn ganz besonders interessierten. Wenn den Landgerichtsrat Sonter eine Rechtsfrage stark beschäftigte, dann ging er an diesen heissen Tagen stets auf den Balkon hinaus und roch an den Blumen, oder erfreute doch sein Auge daran, was er aber rein mechanisch, wie ein Gewohnheitsmensch tat, dem irgendwelche Ablenkung zum Bedürfnis geworden ist.
In diesen Betrachtungen (es waren in der Tat mehrere) wurde Sonter durch das Erscheinen seiner Frau gestört.
„Wünschen der Herr Landgerichtsrat hier draussen zu frühstücken? Es ist nämlich gerade so weit!“
Sonter behandelte diese Frage nur als die Aufmerksamkeit einer Dienerin, der man nur alltägliche Beachtung zu schenken brauche. Er erhob kaum den Kopf, machte auch keine höfliche Körperwendung, als er erwiderte: „Nein, Käthe, ich danke. Decken Sie nur ruhig drin ... Was haben Sie denn heute?“
„Es war noch etwas kaltes Huhn da. Dazu habe ich frischen Spargel gekocht. Auch sonst ist noch allerlei kalter Aufschnitt da. Der Spargel darf aber nicht kalt werden!“
„Schön, schön, Käthe. Ich werde gleich kommen, trotzdem ich heute keinen grossen Appetit habe.“
Er hatte nun das Napoleonhaupt erhoben und blickte auf die Strasse, deren blanker Asphalt in fast weissem Sonnenglanze lag, denn die Häuser gegenüber waren allmählich dem breiten Schattenrisse entrückt. Drüben wurde eine Autodroschke mit Gepäck beladen, und das zog sein Auge an, während die Gedanken fortwährend bei der Sache Goland kontra Goland weilten. Es war da ein ganz bestimmter Paragraph des Bürgerlichen Gesetzbuches heranzuziehen, der ihn andauernd beschäftigte.
„Der Herr Landgerichtsrat haben jedenfalls gestern abend wieder zu gut gegessen, und dann schmeckt das Frühstück niemals, das weiss ich schon“, fuhr Frau Sonter ruhig fort, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Sie stand noch immer hinter der Schwelle, im Schatten des Zimmers, aus dem ihr frisches Gesicht, noch rot von der Hitze des Kochherdes, über der hellen Hausbluse hervorleuchtete und einen auffallenden Gegensatz zu der etwas fahlen Farbe ihres Mannes bildete, die nicht gerade gehoben wurde durch das schreiende Gelb des vor ihm stehenden Goldlacks.
„Da mögen Sie schon recht haben, Käthe“, erwiderte Sonter in derselben freundlichen Weise, wobei er sich wunderte, wie viele Koffer man da drüben herbeischleppte, die seiner Meinung nach gar nicht auf dem Verdeck des Autos Platz hätten.
Die fünfte Zivilkammer des Landgerichts, die sogenannte Ehescheidungskammer, hatte nur Dienstag und Freitag Sitzung, und da heute Mittwoch war, so hatte Sonter gestern abend etwas spät am Stammtisch der alten Weinstube in der Potsdamer Strasse gesessen. An solchen Abenden pflegte er seinem Magen, über den er sich durchaus nicht beklagen konnte, etwas Besonderes anzutun, was aus dem Geleise der häuslichen Küche glitt. Ja, er schwelgte dann sogar ein wenig in den Speisekartengenüssen, so mit dem Behagen eines Ehemannes, der stets ohne seine Frau ausgeht und dann nicht zu befürchten braucht, bei seinen Wünschen irgendwelchen Einwendungen zu begegnen, oder gar für zwei zu bezahlen.
So hatte er sein Leben als Junggeselle geführt, und so führte er dieses Leben auch weiter, nachdem er in die Ehe hineingeplumpst war, so wie der Wanderer, der ahnungslos in der Dämmerstunde über die blühende Heide streicht, plötzlich in einen verlorenen Tümpel gerät, aus dem man schwerer herauskommt, als hinein.
„Wer mag denn da drüben schon verreisen?“ fragte er so nebenbei, während seine Gedanken nun wieder völlig bei Goland kontra Goland waren, indem er ernstlich erwog, ob neben dem Paragraphen 1568 nicht auch der Paragraph 1566 als entscheidend heranzuziehen sei; natürlich zugunsten der Frau, die in diesem Falle ohne Zweifel die Märtyrerin war, die nicht nur aus ihrem Joche befreit werden wollte, sondern auch musste. Das stand für ihn als Referent in dieser Sache durchaus fest, wenn auch der Vorsitzende der Kammer seine Meinung bisher nicht teilte, vielmehr immer wieder vorschlug, den neuen Beweisanträgen des Ehemannes, dass die Behauptungen seiner lieben Gattin nur ihrer hysterischen Veranlagung entsprängen, stattzugeben. Aber dieser liebe Kollege Dienstel war ein Nörgler, ein ausgesprochener Weiberfeind, der sich schon aus diesem Grunde immer mehr auf seiten der Männer stellte und sich erst überzeugen liess, wenn der Buchstabe des Gesetzes es verlangte.
Frau Sonter trat nun auf den Balkon und blickte ebenfalls auf die Strasse, wobei sie es vermied, sich an die Seite ihres Mannes zu stellen, damit die Nachbarschaft drüben nicht etwa ihre Schlüsse auf eine Intimität zwischen beiden zöge; denn solange sie hier wohnten, sah man den Landgerichtsrat stets allein auf dem Balkon sitzen und sie nur als Dienerin um ihn, die kam und ging, sobald er ihrer bedurfte.
„Ach, da verreist ja schon der Baumeister, das sind die beiden Töchter seiner Ersten, die jetzt einsteigen“, sagte sie dann und stützte sich mit den verschränkten Armen auf die innere Eisenstange der Balkonbrüstung, weil es sie nun selbst interessierte, zu beobachten, wer alles die Reise mitmache. Dabei dachte sie: Er ist ja heute sehr gemütlich. Sonst gingen ihn doch die Menschen nichts an.
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