Max Kretzer - Steh auf und wandle

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Der Theologiestudent Gabriel Kreutz ist durch ein Erbe seiner Eltern unabhängig. Sein Geld trägt er vertrauensvoll auf einer wochenlangen Wanderung mit sich. Seinen besten Freund Thomas, mit dem es sich so herrlich über Gott und die Welt streiten lässt, hat er auf seine Kosten mitgenommen. Der geniale Techniker mit dem etwas groben Wesen hat kein Geld. Aber eines Tages wird er seinen Traum wahr machen und fliegen. Aber seit Thomas das Geld Gabriels an sich genommen hat und die Ausgaben verwaltet, bekommen ihre Dispute etwas Vergiftetes. Der eigentlich besonnene Gabriel hat außerdem entdeckt, dass Thomas eine Braut hat. Das Foto von ihr geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Eines Tages provoziert er den Freund mit dem Rat, vor dem irrsinnigen Flugmaschinenbau erst einmal Geld zu verdienen. Plötzlich entlädt sich der ganze Zorn Thomas' auf Gabriels naiven Gottglauben, seine abgesicherte Existenz, seine Großzügigkeit ihm gegenüber und er schleudert symbolisch Gabriels teuren Wanderstock in eine Schlucht. Die Freunde vertragen sich sofort wieder, Thomas seilt Gabriel ab, der den Stock wiederholen will. Auf einmal aber lässt Thomas das Seil los, der Freund stürzt ab. Als die Leiche nach ein paar Tagen nicht gefunden wird, geht Thomas nach Berlin zurück. Er heiratet Lisa und baut vor den Toren Berlins mit dem Geld Gabriels, den er nicht vergessen kann, an seinem Flugzeug. Eines Tages kommt ein Mann über das Feld geschritten …Max Kretzer (1854–1941) war ein deutscher Schriftsteller. Kretzer wurde am 7. Juni 1854 in Posen als der zweite Sohn eines Hotelpächters geboren und besuchte bis zu seinem 13. Lebensjahr die dortige Realschule. Doch nachdem der Vater beim Versuch, sich als Gastwirt selbstständig zu machen, sein ganzes Vermögen verloren hatte, musste Kretzer die Realschule abbrechen. 1867 zog die Familie nach Berlin, wo Kretzer in einer Lampenfabrik sowie als Porzellan- und Schildermaler arbeitete. 1878 trat er der SPD bei. Nach einem Arbeitsunfall 1879 begann er mit der intensiven Lektüre von Autoren wie Zola, Dickens und Freytag, die ihn stark beeinflussten. Seit dem Erscheinen seines ersten Romans «Die beiden Genossen» 1880 lebte Kretzer als freier Schriftsteller in Berlin. Max Kretzer gilt als einer der frühesten Vertreter des deutschen Naturalismus; er ist der erste naturalistische Romancier deutscher Sprache und sein Einfluss auf den jungen Gerhart Hauptmann ist unverkennbar. Kretzer führte als einer der ersten deutschen Autoren Themen wie Fabrikarbeit, Verelendung des Kleinbürgers als Folge der Industrialisierung und den Kampf der Arbeiterbewegung in die deutsche Literatur ein; die bedeutenderen Romane der 1880er und 1890er Jahre erschlossen Schritt für Schritt zahlreiche bislang weitgehend ignorierte Bereiche der modernen gesellschaftlichen Wirklichkeit für die Prosaliteratur: das Milieu der Großstadtprostitution (Die Betrogenen, 1882), die Lebensverhältnisse des Industrieproletariats (Die Verkommenen, 1883; Das Gesicht Christi, 1896), die Salons der Berliner «besseren Gesellschaft» (Drei Weiber, 1886). Sein bekanntester Roman, «Meister Timpe» (1888) ist dem verzweifelten Kampf des Kleinhandwerks gegen die kapitalistische Konkurrenz seitens der Fabriken gewidmet. Während Kretzer anfangs der deutschen Sozialdemokratie nahestand, sind seine Werke nach der Jahrhundertwende zunehmend vom Gedanken eines «christlichen Sozialismus» geprägt und tragen in späteren Jahren immer mehr den Charakter reiner Unterhaltungsliteratur und Kolportage. Er starb am 15. Juli 1941 in Berlin-Charlottenburg. -

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Max Kretzer

Steh auf und wandle

Roman

Saga

Steh auf und wandle

© 1913 Max Kretzer

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711502907

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com

1.

Vor fünf Wochen waren die Freunde zu einer gemeinsamen Alpenwanderung von Berlin aufgebrochen, hatten acht herrliche Tage in München verlebt, waren am Bodensee gewesen, hatten den Bregenzerwald gesehen, waren dann nach Tirol gefahren, hatten sich am himmlischen Salzkammergut erfreut, waren am majestätischen Königssee gewesen und befanden sich nun im Allgäu, das sie über die Pässe erreicht hatten. In einem kleinen Berggasthof hatten sie übernachtet, und nun strebten sie Oberstdorf zu, das sie, ihrer Berechnung nach, am Nachmittage erreichen mussten. Von hier aus wollten sie dann über München wieder nach Hause.

So lagen sie denn seit zehn Minuten untätig auf der blühenden Talwiese und liessen sich die warme Vormittagssonne des Augusttages in das gebräunte Gesicht scheinen, so mit dem ganzen Behagen rastender Wanderer, die nach einem wohlverdienten Imbiss noch Zeit haben, ein wenig die Glieder zu strecken. Thomas Nagel hatte es sich auf seinem Rucksack, den er als Kopfkissen benutzte, bequem gemacht und, seitwärts gedreht, versuchte er mit geschlossenen Augen die Zeit nach seiner Weise auszunutzen. Gabriel Kreuz jedoch lag platt auf dem Rücken und blickte, die verschlungenen Hände unter dem Kopfe, unentwegt in den blauen Himmel.

„Gabriel, schläfst du?“ fragte Nagel plötzlich, ohne sich zu rühren.

„Nein, ich bin total munter,“ erwiderte Kreuz mit seiner weichen Stimme, die so angenehm für das Ohr war.

„Was machst du eigentlich?“

„Ich bewundere die Schwalben da oben.“

„Also hast du schon von mir gelernt, lieber Sohn. In ein paar Jahren werden die Menschen auch so herumfliegen, verlass dich darauf.“

„Aber nicht mit derselben Eleganz,“ spottete Kreuz, „vielleicht auch nicht mit derselben Behaglichkeit.“

„Abwarten und dann Tee kochen, mein Lieber. Das ist nur noch eine Frage der Zeit, glaube mir. In Amerika haben sie ja schon den Anfang damit gemacht, und bei uns in Deutschland regt es sich auch bereits. Natürlich hinken wir wieder hinterdrein, nachdem man uns das Beste abgeguckt hat. Denk’ mal an Lilienthal.“

„Ja, an den denke ich gerade,“ sagte Kreuz gewissermassen wie im Triumph. „Sein Wahnsinn hat ihm das Leben gekostet, und so wird es den meisten andern auch gehen.“

Thomas Nagel geriet in Bewegung und kläffte ihn beinahe an: „Grosse Dinge erfordern immer Opfer, das beweist schon die Weltgeschichte. Und was zuerst für Wahnsinn gehalten wurde, das hat sich dann als ganz vernünftig herausgestellt. Es kommt eben alles auf Ursache und Wirkung an, lieber Sohn. Die Ursache kann noch so vernünftig sein, die Wirkung wird oftmals das Gegenteil erwecken. Glaube mir: gewöhnlich neigen diejenigen dem Wahnsinn zu, die alles Natürliche bezweifeln. Zu denen ich dich, mein lieber Gabriel, selbstverständlich nicht rechnen will. Denn du sträubst dich ja gegen solche Dinge aus angeborener Frömmigkeit, meinetwegen auch aus himmlischem Heimatgefühl, vielleicht auch noch aus Gründen des alten Kirchenglaubens. Nur nicht an den Himmel tippen, immer hübsch auf Erden bleiben, — das ist so dein elementarster Grundsatz, den du den Menschen aufbrummen möchtest. Aber selbstverständlich! Lass mich nur erst ausreden . . . Wir Praktiker jedoch, siehst du, finden es allmählich langweilig auf der Erde, schon weil wir viel zu viele sind, — daher wollen wir uns nun ein wenig da oben in der Luft umsehen, um sie mit der Technik ebenso zu erobern, wie wir es bereits mit dem Wasser und dem Feuer getan haben. Der Dampf durchquert die Erde, er durchrast sämtliche Meere, — warum soll er also eines Tages nicht auch die Luft durchbrausen. Du lachst? Du wirst noch Hurra schreien. Übrigens gibt es ja auch die elektrische Kraft. Was mich speziell anbetrifft, so wäre mein Ideal der fliegende Mensch, so ganz nach Vogelart, wie die Schwalbe da oben, weisst du. Etwa so: Stahlflügel, so dünn wie Spinngewebe, dass sie dem Windhauch folgen. Ein Federdruck, und sie blähen sich und tragen mich hinaus ins Unendliche. Ikarus, ohne geschmolzen zu werden. Donnerwetter, ja! Sache! . . . Eine Kiste guten Tobaks müsste ich allerdings immer bei mir haben, denn du weisst ja, ohne Rauchbolzen kann ich nicht leben. Grossartige Idee, wie? Um mich aber auf das Problem vorzubereiten, will ich jetzt ein Paar Augen voll Schlaf nehmen. Denk’ inzwischen darüber nach.“

Und danach warf er sich wieder auf die Seite und tat so, als ginge ihn nun auf der Welt nichts weiter mehr an.

Es war dasselbe Thema, das Thomas Nagel während der Wanderschaft wiederholt angeschlagen, und das er nun, Gabriels Meinung nach, mit dem fliegenden Menschen zu einer Ausgeburt krankhafter Phantasie erhoben hatte, gegen die man mit göttlicher Vernunft, und alle Vernunft hielt Kreuz als von Gott gegeben, nicht mehr ankämpfen konnte. Er hätte derartige Phantastereien des ewig zu Spott nnd Witz aufgelegten Genossen für Scherz gehalten, wenn die ganze Person Nagels nicht dazu geschaffen gewesen wäre, die Welt eines Tages mit etwas Unglaublichem zu überraschen. Durch und durch Verblüffungsmensch, dessen stets neue Einfälle ungeahnten Attacken glichen, gegen die Kreuz sich mit allem Verstande zu wehren hatte, schüttete er immer neue Erfinder-Ideen aus seinem mächtig gebauten Schädel, so dass jemand, der seine gesunde Ruhe nicht kannte, ihn mindestens für grössenwahnsinnig gehalten hätte. Gabriel Kreuz jedoch hatte sich schon daran gewöhnt, sowie er ohne Aufregung die vielen schäumenden, gurgelnden und wirbelnden Wildbäche in die Tiefe hatte gehen sehen, ohne etwas von Schwindel zu erleben. Und weil dem so war, liess er die überschüssigen Gedanken des Genossen auch diesmal austoben, ohne sich ihnen zu widersetzen.

Die Natur lud zum Schweigen ein. Göttliche Stille herrschte, die für den Denkenden etwas Ergreifendes hatte. Die ganze Landschaft lag im Traume, in dem sie nicht gestört sein wollte. Kein Vogel sang, kein Wipfel rauschte, kein Quellwasser murmelte, keine Biene summte dem Honig nach. Die grosse Luftharfe, die man sonst hörte, ohne sie zu sehen, sonnte sich unberührt, und wenn sich die Grashalme zum sanften Kosen neigten, so geschah es nur angehaucht von der leisen, kaum merklichen Kühle, die von den Höhen herunter über die Wiesen strich. Es war nur ein Fächeln, aber kein Wind. Und in diese Träumerei hinein wob die Märchenpracht ihre Farben. Rote und blaue Blumentupfer machten die Wiese zu einem bunten Teppich, dem das Buschwerk, das sich quer herüberzog, die dunkelgrüne Borte gab. Dahinter stiegen goldgelbe und braunrote Matten die Berglehne hinan, aber ohne das Wogen, das sonst den vollen Ährenfeldern die Bewegung des Meeres gab, denn schon war das Korn geschlagen und in die Scheunen gebracht. Ein dunkler Fichtenwald ragte starr über den Matten und umzog jenseits das ganze Tal. Zerstreut wie Spielzeug lagen die Häuschen eines einsamen Dorfes hoch oben in der Einöde, gerade noch erkennbar dem scharfen Auge. Dann aber wuchsen die kahlen, grauen Felsen wildzerrissen empor und türmten sich zu einem mächtigen, spitzen Gipfel auf, der in der klaren Luft schreckhaft gross und nahe erschien, obwohl es einer Tagesreise bedurft hätte, um an seinen Fuss zu gelangen. Im Sonnenlicht glitzerten, weiss wie flüssiges Silber, die schmalen Wasserfälle, die in den Felsenrinnen zu Tale gingen, und allmählich verwob sich das eintönige Grau und Grün zu einem violetten Dunst, in dem sich weit in der Ferne die Alpenkette verlor, am Horizont hingehaucht wie mit dunkelblauer Tusche auf hellblauem Himmel. Nur die Schneehäupter hoben sich blendend ab, hingeklext wie weisse Farbe in den Äther.

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