Noch immer blickte Gabriel Kreuz in das Unendliche. Die Art und Weise, wie die Wolken sich bildeten, erregte nun unausgesetzt seine Aufmerksamkeit. Vor fünf Minuten war über ihm noch reine Bläue, und nun lag da oben bereits ein dichter, von der Sonne durchleuchteter, weisser Flaum, der sich merklich zusammenballte. Wie aus einem Nichts war er entstanden. Kaum, dass das Auge Zeit fand, dieses Himmelsspiel zu verfolgen, hatten sich zarthelle Schwaden aus dem Äther losgelöst, fast wie dahinziehende Schleierchen, und waren bestrebt, sich zu vereinigen. Und schon wollte das Wölkchen im Luftmeere dahinsegeln, als der Wind es wieder auflöste und die zerfetzten Schleier höher trieb, bis das Blau des Himmels sie wieder verschlang. Dasselbe Spiel wiederholte sich, bald hier, bald dort, so dass Gabriel Kreuz seine Freude daran hatte, denn er bildete sich nun ein, etwas zu beobachten, worauf die meisten Menschen gewiss nicht achteten. Sie sahen eben den Himmel zuerst in reiner Bläue, erblickten dann plötzlich Wolken an ihm, ohne nachzuforschen, woher sie so schnell gekommen waren. Und doch ging alles ganz natürlich zu, wenn auch mit der Eile von Minuten.
Die weisse Wolke über ihm stand unbeweglich, denn sie trotzte gewissermassen der Luftströmung dort oben, die nur imstande war, die Form stetig zu verändern. Sie türmte sich auf, nahm Gestalt an und erschien nun wie der Oberkörper eines riesenhaften Menschen, der rechts und links die in Hermelin gehüllten Arme ausstreckte und ein Haupt mit langem Barte und langen Locken trug. Ein mächtiger, ehrwürdiger Greis schien segnend auf die Erde herabzublicken. So zauberte es wenigstens die reiche Phantasie Gabriel Kreuz vor, und im Augenblick ganz eingenommen davon, versäumte er nicht, den Wandergenossen darauf aufmerksam zu machen.
„Du, Thomas, hör mal zu,“ ermunterte er den Trägen, „ich habe eine neue Entdeckung gemacht.“
„Ist sie technisch oder idiotisch,“ fragte Nagel zurück, ohne sich im mindesten zu rühren. Das war seine ständige Redensart, womit er als Praktiker alles abtat, was seinen Zweifel erregte.
„Ich habe nämlich die Sprache der Wolken gefunden,“ fuhr Kreuz lebhaft fort.
„Also idiotisch,“ sagte Nagel ganz offen, weil er wusste, dass ihm nichts übel genommen wurde. Seine Stimme war wie immer belegt, und die Worte kamen aus verfetteter Kehle. „Ich gebe dir einen guten Rat: Gib ein Wolkenlexikon heraus und nimm ein Patent darauf. Ohne Patent ist heute nichts zu machen.“
Gabriel Kreuz lachte, obwohl er auch diese Litanei des zukünftigen grossen Erfinders zur Genüge kannte.
„Sieh doch lieber nach, ob du das Geld noch hast,“ sprach Nagel weiter, „das scheint mir im Augenblick viel wichtiger zu sein. Man kann nie wissen . . .“
Unter dem Deckel des spitzen Lodenhutes, den er sich über das Gesicht gestülpt hatte, riss er die Augen weit auf. Es war derselbe starre Blick ins Dunkle und Wesenlose, der ihn während der ganzen Nacht oben im Passasyl munter gehalten hatte, weil die aufgescheuchten Nerven in seinem Gehirn hässliche Bilder entstehen liessen, die, immer wiederkehrend, seine ganze Seele gefangen nahmen.
Gabriel Kreuz fühlte aus Gewohnheit unter dem Lodenjakett nach der linken Brustseite, wo in der Innentasche der Weste das Kuvert mit den siebzehntausend Mark in Scheinen steckte, dem Reste von dem Erbteil seiner Mutter. Und zum Überfluss glitt auch die Hand über die Hosentasche, in der sich das Portemonnaie mit dem losen Gelde für den Tagesbedarf befand. „Noch alles da, beruhige dich,“ sagte er dann, während er daran denken musste, wie oft der Freund mit derselben Frage gekommen war, fast täglich und bei jeder Gelegenheit, besonders wenn sie sich zum Aufbruch rüsteten. Und er hatte das auch zu würdigen verstanden; denn ohne viel Sinn für die Güter dieser Welt ging er etwas leichtfertig mit ihnen um. War es ihm doch erst neulich passiert, dass ihm vor dem Ankleiden das Kuvert aus der Weste gefallen war, was er wohl kaum gemerkt hätte, wenn nicht Thomas rechtzeitig mit seiner Aufmerksamkeit gekommen wäre.
„Na, dann ist es gut,“ sagte dieser und schob den Hut etwas höher hinauf, so dass seine Worte verständlicher wurden. „Du weisst ja: Dich muss man bewachen wie ein kleines Kind, sonst gehst du verloren. Was sollten wir beide wohl machen, wenn wir irgendwo festsässen, wie? Dann könnten wir als Landstreicher weiterziehen.“
Gabriel Kreuz zeigte ein heiteres Angesicht. „Du, das wäre gar nicht so übel. Das Dasein einmal von dieser ganz jämmerlichen Seite kennen zu lernen, — darin läge noch Poesie.“
„Und das entspräche auch ganz deinen Erwartungen von der menschlichen Nächstenliebe, nicht wahr? Steht ja wohl als Nummer eins in deinem Lebensprogramm.“
„Gott sei Dank. Ich glaube noch an die Menschheit.“
„Ich nicht,“ kam es barsch über Nagels Lippen. Und er warf sich auf die rechte Seite, so dass er dem Freunde jetzt zugekehrt war.
„Wie oft soll ich das eigentlich noch betonen,“ sprach Kreuz ruhig weiter, immer die hellen Augen zum Himmel gerichtet. „Du kennst doch meine Ansichten, die ich mit der Muttermilch eingesogen habe. Menschheit und Menschen sind zwei ganz verschiedene Begriffe, ebenso wie die Erde und Erde. Die Erde ist etwas unendlich Reines, Herrliches, von Gott Geschaffenes. Erde aber, verstehst du, als Teilchen gedacht, kann Schmutz enthalten.“
„Du, das habe ich bemerkt, als wir uns zuerst da oben hinlegen wollten, wo es so angenehm duftete,“ brachte Nagel seinen Witz wieder an.
„Der Wert des Edelsteins bleibt derselbe, auch wenn schmutzige Hände ihn berühren,“ fuhr Kreuz ernst fort, „und hat er gar in Schmutz gelegen, so wäscht man ihn einfach ab.“
„Und ganz genau so ist es mit den Menschen,“ warf Nagel ein. „Sind sie einmal in Dreck gefallen, dann erheben sie sich wieder und säubern sich einfach.“
„Ein kleiner Unterschied ist doch dabei, mein lieber Thomas. Denn siehst du, es gibt bei den Menschen einen inneren Schmutz, den alles Bürsten nicht vertreibt.“
„Den man aber Gott sei Dank nicht sieht,“ erwiderte Nagel mit gesteigertem Ärger.
„Aber er äussert sich durch schlechte Gesinnung und durch schlechte Handlungen,“ fuhr Gabriel Kreuz lebhaft fort, ganz aufgehend in seiner Meinung, ohne dabei an einen besonderen Fall zu denken.
Nagel schnaufte schon beinahe vor Wut, wie stets, wenn solche ihm unbehaglichen Fragen von Kreuz angeregt wurden. „Meinetwegen mag er sich äussern, wie er will, mein treuer Gabriel, — du kennst ja meinen Standpunkt: Die Welt ist da zum Geniessen und nicht zum Kopfzerbrechen über ihre Mängel. Jawohl. So ist es. Meine Meinung. Basta.“ Und er bohrte den Arm in die Luft und schrie jedes seiner Worte aus voller Kehle. „Übrigens, du — wenn’s dir Spass macht, geh doch mit deiner Poesie fechten und lasse mir’s Geld. Wir werden dann ja sehen, wer weiter kommt mit seiner Moral. Verlieren wirst du deine paar Kröten doch noch, ich seh’s schon kommen. Nächstens vergisst du noch, die Weste anzuziehen. Oder du schenkst sie aus aller Menschenfreundlichkeit einem armen Wurzelsepp und machst ihn in deiner Liebenswürdigkeit noch darauf aufmerksam, dass darin ein grosses Kuvert stecke, falls er an den lieben Gott schreiben wolle. Ja, lache nicht, dir traue ich’s zu.“
Gabriel Kreuz lachte wirklich dazu, obwohl ihm ganz ernst zu Mute war bei dem Gedanken, all’ seine Güte wieder so unterdrückt zu sehen. Thomas Nagel, der arm wie eine Kirchenmaus war, lebte während der ganzen Touristenfahrt nur von ihm; aber zartfühlend wie Gabriel war, unternahm er niemals den leisesten Versuch, ihn das merken zu lassen. Und so wartete er lieber auf den schönen Augenblick, bis der Freund von selbst einmal zu dieser Einsicht kommen würde, wenn auch nur dadurch, indem er der Ansicht des opfernden Gebers weniger herausfordernd und auch weniger zynisch begegnete. Dass aber dieser Augenblick bis jetzt nicht gekommen war, störte ihn nicht in seinem Bestreben, sich auch fernerhin ohne jede Selbstsucht zu zeigen, und nur der Stimme des Herzens zu folgen. Denn von all’ den schönen Sprüchen, die ihm sein alter Vater, der Schulmeister dort oben in Ost-Friesland, mit auf den Weg gegeben hatte, war ihm der Spruch des Evangeliums: „Geben ist seliger denn Nehmen“ am heiligsten.
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