„Reiss doch wenigstens einmal die Augen auf und sieh das wunderbare Gebilde da oben, es kostet ja nichts,“ ermunterte er abermals den Faulen, nun ebenfalls von Ärger erfasst.
Thomas Nagel tat ihm den Gefallen. Mit einem Ruck wälzte er sich auf den Rücken und blickte mit zwinkernden Augen in die Höhe, weil das weisse Tageslicht ihn blendete. „Wo denn? Ich sehe nichts.“
„Aber ich bitte dich! Sieht das nicht wie Gott aus, der über den Wolken thront?“
„Ich habe den alten Herrn noch nicht kennen gelernt, also kann ich nicht urteilen, weisst du,“ spottete Nagel los, wie immer so auch diesmal bestrebt, in solchen Dingen dem Freunde seinen Widerspruch zu erkennen zu geben. Man las ihm den Ärger von dem breiten, gesunden Gesicht ab, in dem die etwas kleinen, verborgen spielenden Augen mit der Schläfrigkeit kämpften. Er war unrasiert, und so sah er, sonnenverbrannt wie er war, etwas wüst aus, ganz im Gegensatz zu Gabriel Kreuz, der nun mit der schmalen, feinen Hand über das rötlich blonde Haar und über den vollen Spitzbart strich.
„Jetzt trägt er sogar eine Krone, sieh doch nur,“ fuhr dieser ganz entzückt fort.
„Dann ist es sicher der alte Barbarossa, der uns guten Tag sagen will,“ stiess Nagel unwirsch hervor und legte sich wieder auf die Seite. „Sprich dich nur ruhig mit ihm aus, lieber Gabriel, — mich aber lass gefälligst zufrieden mit dieser Bekanntschaft. Sei so gut, ja.“
„Geradezu einzig . . . herrlich . . . wunderbar,“ begeisterte sich Kreuz weiter. Und seine grossen, meerblauen Augen waren unablässig auf das köstliche Zufallsspiel hoch oben in der Luft gerichtet, das wirklich eine Minute lang etwas von einer überirdischen Erscheinung bot, dann aber anfing, in seinen scharfen Umrissen zu zerstieben. Die Herrlichkeit zerrann: die Krone schwebte fort, das Lockenhaupt wurde verzerrt und die ausgestreckten Arme im Hermelin fielen schlaff zusammen, als hätten sie es aufgegeben, die böse Welt da unten zu segnen. Kreuz bemühte sich, etwas Neues aus dem verschobenen Gewölk herauszulesen, gab dann aber die Hoffnung auf. Himmlische Wunder waren eben selten, das war im Augenblick seine Überzeugung.
„Nun, was sagt der alte Kyffhäuseronkel?“ meldete sich wieder Thomas Nagel, um ihn ein wenig aufzuziehen.
„Er meinte, du seiest ein ungläubiger Thomas, der niemals belehrt werden könne, besonders, was Gottes Sprache anbetrifft. Und deshalb hat er sich rasch verzogen.“
„Hübsch von dem alten Mann. Um so näher wirst du ihm ja sein, denn du heisst ja nicht umsonst Gabriel. Von einem Erzengel hast du allerdings wenig.“
Kreuz lachte hell auf, denn empfänglich für Humor, konnte er sich diesen Scherzen des Freundes selten verschliessen. Wie gross auch ihre innern Gegensätze waren, — Heiterkeit und Frohsinn des Lebens wurden immer wieder zur Brücke, auf der sie sich versöhnt fanden.
Gabriel Kreuz fuhr in seinen Beobachtungen fort. Kaum, dass er es bemerkt hatte, waren plötzlich überall weisse Wölkchen aufgetaucht, als hätte eine unsichtbare Hand sie aus dem unermesslichen, blauen Himmelsdom herniedergestossen. Sie ballten sich zusammen und rundeten sich zu übereinander geschichteten Kuppeln, und plötzlich ragte am Horizont eine riesige, weisse Wand empor, die fast die Täuschung hervorrief, als streckte sich dort ein unermesslicher Gletscher empor. Sie veränderte sich, und schon in einer halben Minute sah es aus, als wenn ein springendes Untier mit Hörnern von dort aus sich auf die Welt stürzen wollte. Und in seiner Freude über diese neue Entdeckung setzte Gabriel seine philosophische Erkenntnis wieder in Worte um: Alles, was ist, habe Sinn, denn sonst würde die ganze Schöpfung, die mit der Genauigkeit eines Sekundenmessers ihren Kreislauf vollbringe, keinen Zweck haben. Überall im Weltall sehe man die ordnende Hand einer unbegreiflichen Weisheit, und wenn alles dafür spräche, Sonne, Mond und Sterne, so sähe er nicht ein, weshalb auch nicht die Wolken ihre Sprache haben sollten, die sich bildlich äussere dem Sehenden und Empfindenden. Und sollten in ihr auch nur blosse Winke enthalten sein, sie seien doch immerhin dazu angetan, zum Nachdenken anzuregen. Und in diesem Falle hätten die wunderlichen Wolkengebilde ihren Zweck schon erreicht, denn sie zeugten vom Leben, das zum Leben spräche. Es gäbe eben nichts Totes in der Welt: alles fliesse, alles zeige den Strom ewigen Lebens, wenn es auch in anderer Form wiederkehre.
Gabriel Kreuz sprach das aber alles nur zu einem Tauben, denn Thomas Nagel, schon sattsam gewöhnt an diese Weltanschauung, der er kein Verständnis entgegenbrachte, gähnte laut und warf sich unruhig hin und her. Dann, wieder auf dem Rücken liegend, streckte er sich ganz gehörig und sagte trocken: „Dann lass nur alles ruhig weiterfliessen. Nur den Regen beschwöre nicht herauf, das bitte ich mir aus, denn davon haben wir schon genug zu kosten bekommen. Jetzt aber sei so gut, wenn ich bitten darf, nur ein Viertelstündchen, ich möchte schlafen. Und dann weiter, damit wir bald zu einem anständigen Glase Münchener kommen! Und ist ein hübsches Mädel dabei, um so besser. Gute Nacht.“
Und um seine Müdigkeit zu beweisen, spielte er mit Talent den Schnarchenden.
Das alte Schweigen trat ein, und die Natur träumte weiter in ihrer göttlichen Stille. Nur die beiden Menschen wachten, ein jeder auf seine Art, und überliessen sich ihren Gedanken, die so verschieden waren wie der blaue lachende Himmel und der tiefe, dunkle Abgrund, der sich irgendwo inmitten der Felsenriesen dahinten auftat.
Gabriel Kreuz, überzeugt davon, dass der Freund schlief, überliess sich seinen Gedanken. Seine Eltern waren tot, er stand allein auf der Welt, und so dachte er darüber nach, was er, wieder heimgekehrt, beginnen solle, nachdem der Erbschaftsrausch sich in Nüchternheit aufgelöst haben werde. Er hatte Theologie studiert, zuerst in Greifswald, dann in Berlin, ohne aber, und das war das Merkwürdige, volle Befriedigung darin zu finden. Denn was ihn mächtiger anzog, ihn noch himmlischer dünkte als Gottes Wort, war die Musik, weil sie ihm gerade so weit entgegenkam, um die Stimmungen in seiner Gefühlswelt auszulösen. Sein Vater hatte vortrefflich Geige gespielt, und von irgend woher war in seiner Familie die Sage herübergeweht, dass ein Vorfahre, als die Kreuzens noch in den Dithmarschen angesiedelt waren, ein grosser Orgelspieler vor dem Herrn gewesen sei, zu dem sich das Volk in Scharen aufgetan habe, um sich an seiner mächtig brausenden Musik zu erbauen. Vielleicht, dass aus diesen vergangenen Jahrhunderten der Sinn für Töne sich gerade bei seinem Vater und ihm wieder neu belebt hatte nach dem Gesetz der sprunghaften Übertragung, woran er nun einmal glaubte wie an die ewigen Geheimnisse von Ursache und Wirkung im Weltall. Das hatte sich bei ihm schon als Kind gezeigt, da er, als bester Sänger im Dorfe, rein und melodisch sang, ohne eine Note zu kennen, und seiner Mutter Tränen der Rührung entlockte, wenn er am Weihnachtsheiligenabend das „Stille Nacht, heilige Nacht“ anstimmte. Das war es auch, was ihn nach Berlin getrieben hatte, in die Hochflut der musikalischen Genüsse, in der sein Brotstudium unterzugehen drohte, wie die Redensart des besorgten Vaters war, der den zukünftigen Pastor schon Schiffbruch leiden sah. Etwas Wahres war daran, Gabriel konnte es nicht bestreiten, wenn auch sein religiöses Gefühl dasselbe blieb.
Aber die elterliche Sparkasse sollte unter seinem schönen Eigensinn nicht leiden. Er nahm Stellungen als Stundenlehrer an, quälte sich, schon als junger Student, mit den unbegabtesten Rangen herum, um sein Musikstudium zu bezahlen und Oper und Konzerte besuchen zu können. Und diesen schweren Lebensweg zu gehen erleichterte ihm seine himmlische Geduld. Einmal erwog er, Sänger zu werden, dazu reichte aber seine Stimme nicht aus, und so begnügte er sich mit dem Klavierspiel, in dem er es nach und nach zu einer gewissen Fertigkeit gebracht hatte. Das Geigenspiel hatte er bereits vom Vater gelernt, es aber über dem andern Spiel vernachlässigt. Das alles aber genügte ihm nicht; er wollte höher hinauf, etwas Grosses erreichen: wollte Tonsetzer werden, unsterbliche musikalische Werke schaffen. Obwohl er aber drei Jahre lang ein Konservatorium besucht hatte, fast meist in den Abendstunden, kam er bald dahinter, dass seine Begabung sich nur in engen Grenzen bewegte. So blieb er in der Musik mehr der Empfangende als der Gebende: nicht nur zum Kummer seiner selbst, sondern auch seines Vaters, der den Gedanken an diese zersplitterte Existenz seines Einzigen mit ins Grab nahm.
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