Max Kretzer
Roman
9. bis 11. Tausend
Saga
Herbststurm
German
© 1906 Max Kretzer
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711502822
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Es gibt ohne Zweifel Zustände im Seelenleben eines Menschen, in denen er die Nachtigall im November schlagen hört, sich um diese Zeit an Flieder- und Maiglöckchenduft berauscht, und zum Überfluss noch den Lenzesglanz unter azurblauem Himmel erblickt, trotzdem draussen der Herbstregen gegen die Scheiben klatscht und seinen faden Wassergeruch durch die offne Balkontür treibt. Die gemeine Aussenwelt ist dann erstorben, das Paradies der Einbildung öffnet sich, die Liebe schwingt den Zauberstab und lässt im Herzen die frischen Keime spriessen, über die eine Fülle rosenroten Lichts sich ergiesst. Und ist es auch eine späte Saat, die zäh die Kruste durchdringt, lockt die Sonne nur noch mit spröder Kraft, kaum die Ernte verheissend, die erwartet wird — der Verstand ist taub geworden, die Vernunft badet sich nur in Wonne, und die Torheit treibt ihr köstliches Narrenspiel.
Wenn es anders gewesen wäre, wie hätte sich sonst Werner Ulten, schon im Frack, die Gardenie im Knopfloch, noch immer abplagen können, zur Bewunderung eines jungen Mädchens den Pegasus zu tummeln, den er mit all der Unsicherheit eines Fünfundvierzigjährigen bestiegen hatte, dem es schwer wird, die rhythmische Gangart herauszubringen, wenn auch die überquellenden Gefühle sozusagen die Geistessporen zu jedem neuen Antrieb sind. Und er hatte doch so manchen Gaul gebändigt, war flott über alle Hindernisse gegangen, nicht nur in seiner schönen Leutnantszeit, sondern noch in den letzten Jahren, als das trostlose Luderleben Dank der Grossmut seines jungen Bruders rasch ein Ende genommen und ihn wieder auf jene Höhe gebracht hatte, von der aus er verachtungsvoll in die Niederungen blicken konnte, in denen er eine Zeitlang „anständig vegetiert“ hatte, wie die Daseinsumschreibung all der Niedergebrochenen lautet. Selbst der etwas steife, rechte Arm, konnte ihn nicht von neuen verwegenen Reiterkunststücken abhalten, die er an schönen Tagen am Charlottenburger Hippodrom zum besten gab.
Und nun war ihm zu diesem Glück ein zweites zugeflogen: Rita Keith, das Geschöpf mit den schweren Flechten und dem krausen Sinn, das auf seinen Lebensweg geschneit war wie eine duftende Blüte, losgelöst vom übervollen Frühlingsbaum. Damit wenigstens hatte er sie soeben verglichen, als die poetisch gebundenen Worte ihm wie einem verliebten Primaner aus der Feder flossen, von jener Überschwenglichkeit tropfend, die der Johannestrieb in den goldnen Becher schüttet. Sein narbenreiches Don Juan-Herz hatte eine neue Wunde bekommen, die ihm aber diesmal so tief und unheilbar dünkte, dass er in Gedanken die ganze Hausapotheke seiner Erfahrungen durchsuchte, um das nötige Besänftigungspflaster dafür zu finden.
Weshalb war sie gekommen, sie, die er in Wahrheit mit der Libelle verglich, die über den Sumpf seines trügerischen Daseins flatterte, um ihn gleich einem verführerischen Irrlicht aus seiner Ruhe zu bringen, hinwegzulocken nach einem Wohin, von dem er noch nicht wusste, würde es in der Tiefe oder auf einem festen Gestade sein!
Die bekannten drei Klingelzeichen schreckten ihn auf, und als er es eilig hatte, um dem Bruder zu öffnen, schlug der Zugwind die Balkontür zu und trieb die losen Papierblätter vom Schreibtisch auf den Teppich. Die Scheiben klirrten, und die Gasflamme der Arbeitslampe züngelte hoch empor.
„Hoi, hoi, der Herbststurm tobt,“ sagte Werner und hiess den Jüngeren im dunklen Korridor willkommen, bevor er ihm voran ins Zimmer ging, um rasch die Glastür zu schliessen und nach den losen Seiten zu suchen, die er mit einer gewissen Schamhaftigkeit unter einigen Büchern verbarg. Dann erst drückte er sein Erstaunen aus: „Was, wieder in Zivil? Du, hör’ mal —!“
„Man kann doch nicht immer in der bunten Jacke herumlaufen,“ gab der andre zurück und legte die in Seidenpapier eingewickelten langstieligen Rosen beiseite. „Und gerade heute, weisst du, passte es mir absolut nicht. Das geht ja auch alles ohne Aufregung ab. Man flitzt so schön in die Droschke hinein, schindet vergnügt den Abend und flitzt dann wieder ungesehen heraus.“
Der Ältere nahm die Haltung eines Vorgesetzten an und drohte scherzhaft mit dem Finger. „Einjähriger Ulten, nehmen Sie sich in acht, dass man Ihnen das Privatwohnen nicht versalzt und Sie zur Strafe vier Wochen in die Kaserne einzieht.“
Und sogleich stellte sich der Jüngere stramm hin und erwiderte mit demselben komischen Ernst: „Herr Leutnant Ulten wollen entschuldigen, aber es soll nicht wieder vorkommen.“
„Hoffentlich hast du wenigstens Urlaub,“ fuhr Werner lachend fort und machte zugleich Licht am Kronleuchter, da die grünumflorte Schreibtischlampe nur einen geringen Schein verbreitete.
„Bis ins Bewusstlose,“ erwiderte Walter gut gelaunt und sah sich nach einem Platz für seinen Zylinder um.
„Na, dann geht’s ja noch, es wird dir ja heute niemand auf die Bude steigen,“ sagte der andere wieder. „Aber für die Folge führe doch lieber deine Schnüre spazieren. Die Karre könnte doch mal schief gehn.“ Dann wetterte er über andre Dinge los, mit all der Lebhaftigkeit, die immer die stille Wonne des Nachgeborenen bildete. Heute müsse er selbst den Diener spielen, denn seine Haushälterin, die gute Frau Schlierke, scheine auf ihre alten Tage noch tanzen zu gehn; es sei nun schon der dritte Sonntag, an dem sie ihn wie einen Waisenknaben versetzt habe.
„Leg’ doch ab, wir haben noch Zeit,“ fuhr er fort und wollte ihm beim Abziehen des Paletots behilflich sein, wogegen sich Walter jedoch wehrte, denn er sah darin etwas wie ein Dankgefühl für Dinge, deren Gewährung er für selbstverständlich hielt.
Beide Brüder standen sich nun im Frack gegenüber, der Ältere aufgeschossen, schlank und biegsam, unverkennbar der Typus des früheren Offiziers, neuerdings der gewiegte Lebenskünstler in full dress, der elegante Zeittotschläger, an dem alles mit einem gewissen Schwung peinlich abgewogen ist: vom kühngestrichenen Haar und dem Bartzwirbel à la Haby, und von der weissen Weste, durch deren Knopfloch die dünne Kette gezogen ist, bis hinab zum weichen Pariser Lackschuh; und der Jüngere mittelgross und breitschulterig, etwas unbeholfen in seinen Bewegungen, zwar in Wichs geworfen wie der andere, aber mehr nach bürgerlicher Art zurechtgemacht, mehr für die gute Stube geschaffen, als für den Salon. Der Grosse der Mann der Welt, der sich fast daran gewöhnt hat, im Frack zu schlafen, der Kleine der Sonntagsgast, der sich notgedrungen eingezwängt sieht in das unentbehrliche Gewand des Festes.
Und so gross der Gegensatz in ihrer Gestalt war, so wenig ähnelten sie sich auch im Gesicht. Werner zeigte ein gerades Profil mit feinen Linien, die fast in einem Zuge schön ausliefen, während bei Walter die Ecken und Rundungen sich stiessen, ohne dass er dadurch hässlich wirkte. Der Ältere war mehr die ausgeführte Zeichnung eines Idealkopfes, der Jüngere glich mehr einer keck hingeworfenen Skizze, die aber doch den Meister verrät. Werner war die abgeklärte Stille nach vielen Lebensstürmen, in Walter drohte noch das heraufziehende Gewitter, das aber selten zum Ausbruch kam, weil ihm die harte Arbeit seiner Jugend keine Zeit zur Entfesselung der Leidenschaften gelassen hatte.
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