Das Klopfen, das jetzt an der Glasthür ertönte, musste wiederholt werden, ehe es Gehör fand.
Dann trat ein betresster Comptoirdiener ein und überreichte einen Brief, den ein Herr abgegeben habe, der vorn warte.
Rother senior riss das Kouvert auf und überflog die Zeilen, dann wusste er genug, um die eben durchlebten Illusionen durch die Wirklichkeit des Geschäfts verdrängen zu lassen.
Er sagte ein paar Worte, dann klopfte es wieder und herein trat Robert Seidel, bisheriger erster Korrespondent von Leon Guillard, Teppichfabrik in Brüssel, empfohlen durch diesen an Rother und Sohn in Berlin.
Der alte Rother erhob sich von seinem Sitz, stützte nach seiner Gewohnheit die beiden Hände auf den Schreibtisch, sah über diesen hinweg zu dem Eingetretenen und erwiderte dessen höfliche Verbeugung durch ein Neigen des Kopfes. Dann griff er über die weisse Weste nach dem goldenen Pincenez und musterte durch dieses ein paar Sekunden lang scharf seinen Besuch, der seinen Blick voll erwiderte. Die Augen Rothers glitten über die mittelgrosse Gestalt, vom männlich-schönen Kopf über den modischen, aber nachlässig getragenen Sommeranzug bis auf die hellen Glacéhandschuhe und eleganten Stiefel.
Der Eindruck musste ein sympathischer sein, denn das Gesicht des alten Fabrikanten verlor sofort einen Theil seiner kaufmännischen Strenge.
Mit einer Handbewegung wies er auf einen Stuhl.
„Nehmen Sie Platz, Herr Seidel.“
Etwas schwerfällig wurde diesem Ersuchen Folge geleistet, wie von einem Müden, der endlich die ersehnte Ruhe findet.
Dann schritt Rother der Thür zu, schloss sie und kehrte zu seinem Fauteuil zurück.
Er hauchte auf sein Augenglas, polirte es mit seinem rothseidenen Taschentuch und frug dabei:
„Sie waren zwei Jahre im Ausland?“
„Sehr wohl, um mich in der Sprachenkenntniss zu vervollkommnen. Ein Jahr bei William Sniders in London als Kassirer, das letzte in Brüssel bei Guillard als Korrespondent.“
„Sie sind wie alt, Herr Seidel?“
„Achtundzwanzig Jahre.“
„Ein geborener Berliner —?“
„Ja wohl.“
„Sie haben hier Familie —?“
„Nein Niemand. Ich steh’ allein, ganz allein.“
Der Ton, in dem dies gesagt wurde, musste anders gewesen sein wie der der vorangegangenen Antworten, denn der alte Chef blickte plötzlich sonderbar auf, man wusste nicht, war er von Mitleid gepackt, oder betroffen von der Härte, die in dem Klang der Stimme lag.
Er machte eine Pause und benutzte dieselbe, um sein Glas vor die Augen zu bringen. Dann frug er wieder:
„Wollen Sie mir noch die Frage gestatten, was Ihr Vater war, Herr Seidel —?“
„Lehrer der neueren Sprachen, zuletzt Privatdozent an der hiesigen Universität.“
„Ah, sooo —.“
Als Rother senior diese langgedehnten Laute überraschend schnell ausstiess, befand er sich in der Lage eines Mannes, dem plötzlich eingeflösster Respekt vor Jemandem zwingt, diesem durch irgend etwas, sei es auch nur durch die Veränderung einer Miene, unbewusst Kenntniss von diesem Respekt zu ertheilen.
„So, so —.“
Der Mann vor ihm hatte durch dieses Eingeständniss seines guten Herkommens in einer halben Minute in seinen Augen ein anderes Aussehen bekommen. Dieses eine Wort „Universität“ pflegte ihm stets zu imponiren, seitdem er dabei immer an seine Schwiegertochter denken musste.
Es trat abermals eine Pause ein. Rother las noch einmal das Empfehlungsschreiben, dann begann er wieder:
„Haben Sie ein Zeugniss von Sniders in London?“
Robert Seidel zog ein grosses ledernes Portefeuille aus seiner Brusttasche und entnahm demselben ein zusammengefaltetes Papier. Er erhob sich dann und machte einen Schritt.
„Bitte —.“
Rother senior las langsam und bedachtsam. Als er fertig war und das Papier wieder zusammenlegte, nickte er, und eine halblaute Meinungsäusserung wie „vortrefflich“, die mehr für ihn selbst bestimmt war, kam über seine Lippen.
Dann schien er einen Augenblick zu überlegen, denn er trommelte mit den Fingern der rechten Hand auf die Platte des Tisches und blickte vor sich hin.
Als er sich jetzt erhob, schien er mit seinem Entschluss fertig zu sein.
„Es freut mich, Herr Seidel, durch Ihre auf unser Inserat erfolgte Offerte Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, um so mehr, da der Zufall gerade eine Vakanz in unserem Geschäft eintreten liess, als Sie bereits mit einem Empfehlungsschreiben an mich unterwegs waren. Ich engagire Sie hiermit als Kassirer und theilweise für das Ressort der auswärtigen Korrespondenz mit einem Salair von vorläufig achthundert Thalern, und wünsche nur noch, dass Sie sich dieses Vertrauenspostens würdig zeigen mögen.“
Robert Seidel sprach seinen herzlichen Dank aus und ergriff die ihm dargereichte Hand.
Während man noch ein paar Worte über den Tag des Antritts wechselte, hörte man vom Hofe herauf das Scharren der Pferde. Es war angespannt worden. Die Zeit war herangerückt, wo Rother senior den üblichen Besuch in der Fabrik zu machen pflegte, um sich gleichzeitig am Fortschritt des Villenbaues zu erfreuen.
Er warf einen Blick hinunter und fasste dabei nach der Westentasche, wo die Uhr steckte, als die Thür, die nach den Wohnräumen führte, knarrte und Frau Rother junior mit einem durch den Anblick eines Dritten abgebrochenen: „Lieber Papa —.“ in voller Morgentoilette hereinrauschte.
„Du, mein Kind —?“
Der alte Rother drehte sich glücklich lächelnd um und drückte seiner Schwiegertochter, die auf ihn zugeeilt war, einen Kuss auf die weisse Stirn.
Dann wandte er sich zu seinem neuen Kassirer und sagte verbindlichst in rosiger Laune:
„Auf Wiedersehen, Herr Seidel — sprechen Sie gefälligst morgen um diese Zeit wieder einmal vor.“
Frau Rothers junior und Robert Seidels Blicke begegneten sich jetzt, flüchtig und doch lange genug, um zu wissen, wer Jedes von ihnen war. Aber Keiner von Beiden wollte es im ersten Augenblick glauben. Der junge Mann starrte die Frau dort vor sich an, unhöflich, brüsk und doch erwartungsvoll, irgend ein Wort, das ihm gelte, zu vernehmen, aber es kam nicht über ihre Lippen, denn sie war in derselben Verfassung wie er. Er hatte also nichts zu erwarten. Er fühlte, wie ihm das Blut nach dem Herzen ging, plötzlich mit einem einzigen Stoss, dann ergriff er seinen Hut.
„Ich empfehle mich Ihnen —.“
Er wusste nicht, ob er sich dabei verbeugt hatte — wahrscheinlich, er nahm es an. Er wusste auch nicht, wie er die Treppe herunter kam. Aber er wusste, dass er dann im hohen, breiten, reich stuckatirten Hausflur stand und einem Mann begegnete, der gerade den zweiten Thorflügel öffnete und den er für den Portier hielt. Er hatte für diesen ein paar Fragen bereit, auf die er Antwort fand.
Als in den Strassen der Lärm der Weltstadt ihn wieder umbrauste, ihn den Heimathlosen in der Heimath, war es für ihn keine Täuschung mehr: Frau Rother junior, die Gattin seines neuen Chefs, war Louise Wilmer, seine erste Liebe, die Jugend- und Schulfreundin seiner armen verlorenen Schwester ...
Oben hatte Rother senior seiner Schwiegertochter den Arm gegeben, und mit der jungen Frau nach dem Wohnzimmer zurückkehrend, wo das Frühstück aufgedeckt war, zeigte er eine köstliche Laune, und hatte zu fragen, zu lachen, zu plaudern, dass er dabei ganz übersah, wie er nur allein spreche. Aber er war rein närrisch geworden in der letzten Zeit. Wenn ihn nur sein Personal einmal so in seinem Sich-gehen-lassen beobachtet hätte, es wäre um den alten Respekt geschehen gewesen. Dieser glückliche Schwiegervater, was hatte er Alles zu fragen ... „Hast Du gut geschlafen, liebes Kind ... Du findest Dich doch behaglich? Wenn Dir im Haushalt etwas fehlt, nicht recht ist, bitte, verschweige nichts ... Edmund hat mir gesagt, die Kammerzofe scheine Dir nicht zu gefallen, Du möchtest sie aber nicht gleich wieder fortschicken. Ich bitte Dich, sei nicht zu gutmüthig. Am Ende noch darunter leiden, Du mein Kind, das fehlte noch! Nein, Du sollst eine andere Zofe haben, diese Woche noch ... Ihr wohnt ein wenig beengt, nicht wahr? Gedulde Dich nur noch ein, zwei Monate, dann habt ihr euer Haus für euch. Wie wirst Du Dich wohl fühlen, Kindchen ... Aber Edmund könnte jetzt auch kommen. Der gute Junge! Er müht sich selbst ab, unten beim neuen Arrangement des Musterlagers.“ (Er nannte seinen Sohn jetzt sogar einen „guten Jungen“.)
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