Als er vor dem Hause anlangte, war die Türe schon geschlossen. Er rief den Wächter herbei und tappte im Finstern die Treppen hinauf. Der Holsteiner, eine Hüne von Gestalt, war noch auf. In fieberhafter Hast trug ihm Reinhard sein Anliegen vor.
„Machen Sie mich nicht noch unglücklicher dadurch, dass Sie jetzt Fragen stellen. Sie werden dasselbe erfahren, was auch die Welt erfahren wird. Aber wollen Sie mir einen Gefallen tun, dann begleiten Sie mich.“ Der Holsteiner sagte kein Wort; er drückte seinem Freunde die Hand, drückte sie ihm so herzlich, dass Reinhard ihn verstehen konnte. Dann machte er schnell Toilette, und die beiden Freunde schritten stumm und schnellen Schrittes jenem Paradiese zu, wo die Halbwelt die Schlange ist und die Gemeinheit die Frucht am Baume der Erkenntnis. Hier leuchtet die Sonne nur in der Nacht.
Blendende Nacken und weisse Arme, gerötete Wangen und blitzende Augen, freche Blicke und trunkene Lippen, schamlose Bewegungen und gemeine Reden, geborgte Kleider und falsches Geschmeide, — das sind die Aushängeschilder am Marktplatz der Hetären.
Berauschende Musik hält die Sinne gefangen und verhindert das Nachdenken; Hunderte von Kerzen ersetzen das Tageslicht und werfen ihren Reflex in den vergoldeten Stuck der Decken und Säulen. Wie ein erweitertes Panorama wirft das Spiegelglas der Wände das bunte Bild zurück. Die Blattpflanzen strömen ihren Duft aus, und hinter ihnen ertönt rohes Gelächter. Die Springbrunnen plätschern in den Grotten, und nebenan in der Nische knallen die Pfropfen und klirren die Gläser, — sie klirren so hart aneinander, dass eins davon zerbricht und der strömende Champagner sich über die elegante Robe aus rosa Seide vergiesst.
„Da trafen sich die Gläser, des Dritten Glas zersprang,“ singt eine lallende Männerstimme und macht einen schwachen Versuch, das Lied weiter zu trällern.
„Emmy, du hast dir ’n Fleck gemacht,“ ertönt eine weibliche heisere Stimme.
„Pah, — Fritz kauft mir ein neues Kleid; was, — kleiner Schäker, süsser Junge?“
„Alles, was du willst,“ lallt die männliche Stimme weiter. „Komm auf meinen Schoss, liebes Kind.“ —
„Das Vergnügen kannst du haben, du weisst doch, wie’s im Liede heisst: ‚Wer nicht liebt Wein, Weib, Gesang, — der spart viel Geld sein Leben lang‘.“
„Da hast du recht, Mädchen, aber deshalb keine Feindschaft. Schenkt ein. Noch ‚keiner starb in der Jugend, der bis zum Alter gezecht‘.“
„Du bist und bleibst doch der einzige vernünftige Mensch auf dieser Welt, Doktor,“ sagte die heisere Brünette. „Prosit, Kinder, es lebe der Leichtsinn und sein Gevatter, der schöne Brand!“
Hinter einer Säule stand Reinhard und hörte jedes Wort. Seine Wissenschaft hatte ihn gelehrt, dass das Herz nichts weiter als ein Muskel sei, der das Blut in Bewegung setzt. Von Sekunde zu Sekunde fühlte er, wie dieser Muskel sich immer mehr anspannte, wie das Blut ihm glühend heiss in die Wangen stieg und den Schweiss aus seinen Poren trieb. Er sah durch die halb geöffnete Portiere in das vom Wein glühende Gesicht seiner Schwester, er sah, wie sie sich auf Brands Schoss setzte und, den Champagnerkelch in der Hand, den Arm um seinen Hals legte: eine Phryne. Er sah, wie Brand den feinen Körper an sich presste und wie sie sich nicht wehrte. Dann wurde die Portiere plötzlich zugezogen.
Das also war seine Schwester! Dasselbe Mädchen, für das er gebetet, gehungert und gedarbt hatte, für das er drei Jahre lang die Strassen durchirrt, nur um noch einmal ihre Stimme zu hören; das so oft ihn süss beim Namen genannt und sich an ihn geschmiegt hatte, wenn er ihr sagte, wie stolz er sei, ihr Beschützer zu sein, — dasselbe Mädchen! „Ewige Gerechtigkeit, du bist ja auch nur ein Weib, das — Launen hat wie alle anderen! Wenn dem nicht so ist, dann lass die Säulen bersten, dass krachend in tausend Stücken das Dach uns begräbt: mich, sie, ihre Schande und ihren Buhler!“ Die Säulen barsten nicht, und das Dach stürzte nicht. Aus dem Tanzsaal schallte die Musik nach wie vor in leisen Rhythmen herein; der Springbrunnen plätscherte wie immer, und im Nebenzimmer fing man jetzt auch an, die Pfropfen schiessen zu lassen.
Die dunkle Gestalt löste sich von der Säule, und im nächsten Augenblick stand Reinhard vor seiner Schwester.
Es gibt keinen Menschen, und wäre er der moralisch und physisch verkommenste, bei dem nicht einmal im Leben der Pendelschlag seines Gewerbes die Schwingungen einstellt und ihm mindestens eine Minute lässt, in der das Bild vergangener Tage vor seiner Seele steht. So auch bei Emmy. Der Pendelschlag ihres Gewerbes, der sich immer gleich blieb, hielt an, und in dieser einen Minute stand alles vor ihrer Seele: Jugend Ehre, Glück und Liebe. Sie sah das kleine Zimmer ihres Bruders, ihn selbst beim matten Lampenschein, wie er die Wissenschaft Schritt für Schritt sich dienstbar machte. Sie selbst sass an seiner Seite mit einer Handarbeit beschäftigt und lauschte seinen Worten, wenn er von seinen Plänen sprach. Dann kam er und warf sein Netz aus. Immer fester zogen sich die Schnüre zu, bis sie gefangen sass, betrogen wurde und das wurde, was sie heute war. Und doch konnte sie nicht von ihm lassen.
Sie wagte nicht aufzublicken, und doch las sie auf Reinhards Stirn all die kummervollen Nächte, die er durchwacht, all das namenlose Elend, das sie über ihn gebracht hatte. Sie presste die Lippen fest aufeinander, als er jetzt krampfhaft ihren Arm umspannte, so krampfhaft, dass sie hätte aufschreien mögen vor Schmerz. Sie fühlte seinen heissen Atem auf ihrem Gesicht und sah im Geiste seine brennenden Augen, als er hervorstiess:
„Wenn du einst in der letzten Minute deines Lebens vor deinem Richter stehst, dann möge noch einmal die Röte der Scham dir ins Gesicht schlagen, und dann denke an mich, dem du den Glauben an eine Menschheit aus der Brust gerissen, Dirne!“
„Reinhard, — bei Gott —“
„Missbrauche das Wort nicht, Elende! ... Dirne, Dirne!“
Fritz Brand begann nüchtern zu werden. Er hatte Reinhard von jeher gehasst und nur Freundschaft geheuchelt seiner Schwester wegen. Jetzt hatte er ihre Reize gehörig durchkostet; sie war ihm eigentlich nie mehr gewesen, als was ihm ein Patient gewesen wäre: ein Objekt. Aber dieses Objekt hatte er sich teuer genug erkauft, erst durch Schwüre, dann durch Heuchelei und Versprechungen, zuletzt durch Geld. Es war also sein Eigentum. Er wollte doch sehen, wer ihm, dem einzigen Erben einer halben Million, dieses Objekt streitig machen wollte!
Schwer war seine Zunge immer noch, als er sich nun erhob und begann:
„Sie waren so frech, diese Dame zu beleidigen. Sie werden so gut sein, die Beleidigung auf der Stelle zurückzunehmen, sonst können Sie erwarten, dass ich Sie züchtige, — züchtige mit dem Recht, das jedem zu Gebote steht, der seine Maitresse — — —“
Er kam nicht weiter. Ein schallender Schlag ins Gesicht war die Antwort Reinhards. Dann fiel der Marmortisch um, so dass die Gläser am Boden rollten. Brand ergriff eine Champagnerflasche und schwang sie in der Luft, das Gesicht fahl, die Lippen fahl, nur die Wange von der Ohrfeige gerötet.
Emmy sah die erhobene Flasche. Sie wusste, dass Brand ihrem Bruder an Kräften überlegen war, und sofort die Gefahr ahnend, stellte sie sich vor Reinhard, um so den Schlag zu parieren. Der Tod wäre ihr in diesem Augenblick eine Wohltat gewesen. Aber Reinhard hatte seinen Gegner nicht aus den Augen gelassen. Blitzschnell umspannte er das Armgelenk, das die Flasche hielt, so eisern, dass Brand mit einem erstickten Wutschrei zurückprallte. Jetzt hatte Reinhard Spielraum, und er wollte ihn benutzen. Er umklammerte den Hals seines Gegners und wollte ihn erwürgen. Jetzt oder nie! Auge um Auge, Zahn um Zahn!
Soll er ihn töten? Nein, nein.
Er sah, wie Brand die Farbe wechselte, wie erst Rot und dann fahles Grau sein Gesicht überzog, und er wollte die Finger öffnen, aber er konnte es nicht. Eine dämonische Gewalt hatte ihn umstrickt, versuchte ihn zum Mörder zu machen.
Читать дальше