Aber er hatte einen guten Genius zur Seite, und dieser Genius war eine Dirne, — seine Schwester. Es klang so bittend, als sie sagte:
„Reinhard erwürge mich, statt seiner.“
Nicht diese Worte waren es, die ihn zur Besinnung brachten, sondern der Ton, in dem sie gesprochen wurden. Die Finger lösten sich.
Das war wieder dieselbe Stimme der Unschuld, wie er sie früher so oft vernommen hatte, und ein Wonneschauer durchrieselte ihn bei dem Gedanken, dass er sie doch vielleicht noch retten könnte. Aber er musste jetzt mehr an sich denken als an sie.
Denn kaum fühlte sich Fritz Brand befreit, als er laut um Hilfe schrie.
„Hilfe! Mörder? Kellner!“ ertönte seine matte Stimme, und im Nu war alles vor der Nische versammelt.
Reinhard wollte sich Bahn brechen, aber Brand hatte wieder Oberwasser bekommen.
„Hundert Flaschen Sekt gebe ich zum besten, Mädels, wenn ihr dem die Augen auskratzt.“
„Bravo, Kleiner, das nenne ich noch eine Idee,“ sagte eine aus dem Haufen.
Ein üppiges Frauenzimmer, in hechtgrauen Atlas gekleidet, der das Laster auf der Stirn geschrieben stand, und die von Brand wahrscheinlich einmal beleidigt worden war, fand es an der Zeit, ihren lange verborgenen Trumpf auszuspielen.
„Feiger Herr Doktor, man kratzt keinem Menschen die Augen aus, der so schön ist wie dieser Herr.“ Dabei versuchte sie sich an Reinhards Arm zu hängen.
Mit einem Ruck hatte Emmy sie zurückgerissen.
„Besudle ihn nicht, freches Geschöpf.“
„Was sagst du, dummes Ding ...“ Sie wollte auf Emmy los, aber von Reinhards Hand getroffen, taumelte sie zurück. Ein eleganter Kerl mit verlebtem Gesichtsausdruck, wahrscheinlich der Zuhälter der Dirne, wollte sich auf Reinhard stürzen. Aber schon winkte Brand einen Kellner zu sich heran und raunte ihm zu:
„Fünf Taler gebe ich Ihnen, Richard, — werfen Sie diesen Menschen hinaus.“ Nichts war dem Kellner, der Brands gute Trinkgelder kannte, erwünschter als dies. Deshalb wandte er sich an Reinhard.
„Sie haben Krakehl gesucht, verlassen Sie das Lokal.“
„Ja, werft den Kerl ’raus,“ rief der Zuhälter.
Wenn auch die Kluft, die Emmy von der menschlichen Gesellschaft trennte, ein bodenloser Abgrund war, — der eine Augenblick, in dem sie jetzt mit flammendem Antlitz vor Reinhard hintrat, hätte alles gesühnt.
„Wehe dem, der ihn anrührt!“
„Sie sollen das Lokal verlassen, hören Sie nicht?“ sagte der Kellner aufs neue. Reinhard rührte sich nicht, sondern sah ihn nur verächtlich an.
„Machen Sie doch nicht so viel Umstände,“ bemerkte der Zuhälter der Dirne im hechtgrauen Kleide. „Ich werde Ihnen zeigen, wie man das macht.“ Er packte Reinhard an der Brust und versuchte ihn wegzudrängen, aber in demselben Augenblick fühlte er, wie eine Faust von Eisen sich in sein Genick grub und ihn so kräftig zurückriss, dass er taumelte und zu Boden fiel. Die Hünengestalt des Holsteiners stand vor Reinhard und verdeckte ihn wie ein Wall.
Der Sohn des meerumschlungenen Ländchens sah den Zusammenprall zwar kommen, wollte aber erst im entscheidenden Augenblick dazwischentreten. Es blieb ihm und seinem Kollegen jetzt weiter nichts übrig, als so schnell als möglich diesen Ort zu verlassen, wenn nicht noch ein allgemeiner Skandal herbeigeführt werden sollte. Deshalb nahm er Reinhard am Arm und zog ihn mit sich fort. Noch einmal drehte sich Reinhard um. Seine Augen suchten Emmy, aber sie war aus der Nische verschwunden.
Es gibt Seelenzustände, wo jedes Wort der Teilnahme, das wir spenden sollten, als Beleidigung erscheinen würde. Das wusste der brave Holsteiner, und so handelte er darnach, als die frische Nachtluft ihnen auf der Strasse entgegenschlug. Er drückte seinem Freunde stumm die Hand und wollte sich verabschieden. Reinhard hielt ihn zurück.
„Ich bin Ihnen noch eine Erklärung schuldig —“
„Nein, nein. Ich hätte ebenso gehandelt.“
„Sie wussten also, dass jene Dirne meine Schwester ist?“
„Ich ahnte es. Sie ist besser als ihr Ruf. Gute Nacht.“
„Noch eins.“ Reinhard rief ihn zurück.
„Und?“
„Wenn ich eines Tages einen Sekundanten brauche, wollen Sie —?“
„Sie können noch fragen —“
„Und wenn ich fallen sollte, wollen Sie mir versprechen, mich zu rächen? Denn wenn ich nicht mehr lebe, darf er auch nicht mehr leben.“
„Mein Ehrenwort.“
„Ich danke Ihnen. Gute Nacht.“
Damit trennten sich die Freunde.
Wie Reinhard nach Hause kam, wusste er nicht. Er wusste nur, dass er plötzlich an dem offenen Fenster seines Zimmers stand und in die Nacht hinausblickte. Er sah in die Tiefe und stellte Betrachtungen an, wie viel Schläge sein Puls wohl noch machen würde, ehe er da unten zerschmettert ankäme. Eigentlich war der Tod ja doch nur die letzte Komödie im Leben, und er hätte dann die Genugtuung gehabt, der einzige Narr in dieser Komödie gewesen zu sein. Wie, wenn er es wagen würde? Wer würde denn um ihn weinen? Niemand. Der wahre Philosoph sagt, dass derjenige einen beneidenswerten Tod sterbe, der sich rühmen dürfe, ausser dem reinsten Glück auch die Unreinheit des Lebens durchkostet zu haben. Hatte er dieses Glück nicht genossen im Bewusstsein seiner Schwesterliebe? Hatte er nicht soeben den elendesten Auswurf der Menschkeit kennen gelernt, dort, wo ihm das Weib nur als feile Ware vor Augen getreten war? Aber im Grunde genommen ist doch noch kein Philosoph gestorben, der sich rühmen durfte, er sei frei von allen Zweifeln gewesen. „Erbärmliche Welt, in der schliesslich doch nur jeder sein eigener Narr ist, und wäre er der grösste Philosoph.“ Er warf das Fenster zu, dass die Scheiben klirrten. Aber horch, was war das? Rief da unten nicht eben jemand seinen Namen? Er lauschte.
„Reinhard!“ tönte es jetzt deutlich zu ihm herauf. War das wieder eine jener Täuschungen, die schon so oft sein Ohr betrogen hatten?
„Reinhard!“ hallte es nochmals. Er öffnete das Fenster wieder, und seine Augen versuchten das Dunkel der engen Gasse zu durchdringen.
„Reinhard, lebe wohl!“ tönte es aufs neue mit matter Stimme. Es war ihm, als stünde da unten eine dunkle Gestalt und schaute zu ihm empor. Erhielt den Atem an.
„Emmy,“ flüsterte er leise. Keine Antwort kam. „Emmy, komm, ich habe dich noch immer lieb.“ Es war ihm, als hörte er ein Schluchzen.
„Reinhard, lebe wohl.“ Das Rauschen eines Kleides drang an sein Ohr, dann war die Gestalt verschwunden. Litt er wirklich an Halluzinationen? Er musste Gewissheit haben. Er ergriff seinen Hut und eilte die vier Treppen hinab. Der Mond trat gerade hinter einer Wolke hervor und beleuchtete hell die enge Gasse.
Er blickte rechts, er blickte links: nirgends eine menschliche Seele ausser ihm. Also war es doch Täuschung. Aber es konnte ja nicht sein! Emmy war es doch, eine innere Stimme sagte es ihm. Qualvolle Angst befiel ihn; er musste sich Luft machen.
„Emmy, Emmy!“ rief er in die stille Nacht hinein, und „Emmy, Emmy!“ wiederholte er. Kein anderer Laut als seine eigene Stimme. Wie ein abgelegener Kirchhof kam ihm die Gasse vor. Er musste fort. Er lief den Hauptstrassen zu, die noch Leben zeigten. Über eine Stunde irrte er umher, wie ein halb dem Wahnsinn Verfallener, ohne eine Spur von ihr zu entdecken. Endlich kehrte er müde und abgespannt nach seiner Wohnung zurück. Das Fenster war noch offen. Der Mond stand jetzt voll am Himmel und warf sein Licht auch in sein kleines Zimmer. Und wieder dachte er an Rückert, als er noch einen Blick zum Himmel emporsandte:
Um Mitternacht
Nahm ich in acht
Die Schläge meines Herzens.
Ein einziger Puls des Schmerzens
War angefacht
Um Mitternacht.
Dann legte er sich nieder.
Der Tag ist das belebende Element, das uns die Schauer und Einsamkeit der Nacht vergessen lässt und neue Hoffnungen in unserer Brust erweckt. Als Reinhard sich erhob, fühlte er sich gestärkt, und nur ein Gedanke stand vor seiner Seele: Du wirst sie retten. Jetzt hatte er ihre Spur. Er wollte Emmy in ihrer Wohnung aufsuchen und sie mit Gewalt aus ihrem Sumpf reissen.
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