Er dachte nicht daran, was die Menschen dazu sagen würden; er dachte auch nicht daran, dass die nie ruhende Lästerzunge unseres Nächsten stets nur das Gemeine hervorkehrt, jede gute Handlung aber übersieht, — er wollte der Welt ins Gesicht schlagen und ihr zurufen: Wer frei von aller Schuld, der werfe den ersten Stein.
Reinhard war eine heroische Natur. Was kümmerte ihn überhaupt die Welt! Er war sein eigener Richter und auch der seiner Schwester.
Er überlegte, welche Schritte er einzuschlagen habe, um ihre Wohnung zu erfahren. Der Schurke Brand musste es wissen. Zu ihm gehen? Dann müsste er zu gleicher Zeit für einen Pistolenkasten sorgen; aber ohne Zeugen, — das wollte er nicht. Er war einmal nahe daran gewesen, zum Mörder zu werden, einmal, nie wieder. Die Kugel, die er für ihn im Laufe hatte, blieb ihm sicher. Er ging nach dem Einwohnermeldeamt, wie er es so oft getan, um sich nach Emmy S. zu erkundigen
„Waisengasse Nr. ... vier Treppen“, erhielt er zur Antwort wie stets. Da hatte sie mit ihm zusammen gewohnt; das wusste er. Also wieder vergebens. Es blieb ihm nur eine Annahme: sie musste sich einen anderen Namen beigelegt haben. Er ging zu seinem Freund, dem Holsteiner, um sich Rat zu holen. Sie forschten beide.
Der Holsteiner ging am Abend nochmals ins Orpheum, fand aber keine Emmy, wohl aber sah er Brand, der sich mit der Dame im hechtgrauen Kleide wieder vertragen hatte und schon im Sektrausch war. Als er des Holsteiners ansichtig wurde, lud er ihn ein, Platz zu nehmen. Der Holsteiner zuckte verächtlich mit den Achseln und drehte ihm den Rücken.
Brand zitterte vor Wut, aber er musste sich zähmen; er wusste, dass der junge Riese der beste Schläger der Universität war und das Herz aus dem Coeur-Ass geschossen hatte.
„Holsteiner Bauernjunge“, murmelte er, aber so leise, dass er allein es nur hören konnte. Die kleine Brünette mit der heiseren Stimme sprang dem Holsteiner jetzt entgegen und fasste ihn unter; sie ging ihm gerade bis zur Hüfte.
„Sie kleiner starker Mann von gestern, wollen wir nicht eine Flasche Sekt trinken, — dort hinten?“ krächzte sie heraus.
„Nein, das nicht; aber einen Taler schenke ich dir, wenn du mir sagst, wo die blonde Emmy wohnt.“
Er hatte dabei seine Börse hervorgeholt und hielt dem Mädchen das blanke Geldstück hin. Im Nu hatte die Dirne ihm den Taler weggerissen.
„Oranienstrasse Nr. ... eine Treppe rechts, vorn heraus, zwei Zimmer, sehr elegant, Plüschsofa, Seidengardinen, separater Eingang. Emmy Braun steht auf der Visitenkarte“, schnarrte sie herunter und entfernte sich eilig, als befürchtete sie, der Taler könnte ihr verloren gehen.
Der Holsteiner wusste genug. Er ging zu Reinhard und benachrichtigte ihn. Also Braun nannte sie sich. Am andern Tage in aller Frühe war Reinhards erster Gang nach der Oranienstrasse. Bald stand er an der Tür der Wohnung und klingelte. Eine Frau öffnete.
„Bis jetzt noch nicht nach Hause gekommen, wird wohl wieder wo anders schlafen.“ Damit warf sie die Tür zu. Reinhard stieg das Blut nach dem Kopfe. Er wollte noch einmal klingeln und der Frau sagen, dass Emmy Braun seine Schwester sei; dann fiel ihm ein, dass sie ja für eine Dirne galt, und zum ersten Male in seinem Leben schämte er sich. Er nahm sich vor, am Nachmittag noch einmal vorzusprechen und ging.
Einen Tag und zwei Nächte nicht nach Hause gekommen! Wo war sie denn?
Unterwegs tauchte ein furchtbarer Verdacht in ihm auf, so dass er wie gebannt auf der Strasse stehen blieb. Wie, wenn sie es doch in jener Nacht gewesen wäre, die ihm Lebewohl zugerufen hatte? Allmächtiger, wenn dies Lebewohl für ewig gegolten hätte und sie Hand an sich gelegt? Er wollte nicht daran denken, aber der Gedanke verliess ihn nicht mehr.
Als er in die Prinzenstrasse einbog, stiess sein Fuss an ein kleines in Zeitungspapier gewickeltes Paket. Er hob es auf und schaute sich um, wer es verloren haben könne. Niemand schien darauf Anspruch zu machen. Er steckte es zu sich, um es bei der Polizei abzugeben.
Er wollte in die Klinik gehen, wo er seit einiger Zeit praktisch tätig war, aber als er nach der Uhr sah, schien es ihm noch zu früh zu sein. Er kehrte daher nach seiner Wohnung zurück. Der Gedanke, dass seine Schwester nicht mehr unter den Lebenden weilen könnte, wollte ihm nicht aus dem Sinn. Er legte das gefundene Päckchen vor sich auf den Tisch und stützte den Kopf in die Hand.
Sein Blick hastete unwillkürlich auf dem Zeitungsumschlag des Pakets, und so las er mechanisch das Wort: Polizeibericht. Seine Augen suchten weiter, und er las folgenden Satz: „In der Nacht vom 10. zum 11. stürzte sich ein Mädchen vom Louisenufer aus in das Engelbecken. Die herrschende Dunkelheit veranlasste, dass es durch den sich gerade in der Nähe befindlichen Wächter im Verein mit mehreren Schiffern nur als Leiche ans User gebracht werden konnte. In den Taschen fand man ausser einem Portemonnaie mit drei Talern Inhalt einen einfachen Ring mit dem eingravierten Namen Emmy. Die Leiche wurde nach dem Obduktionshause befördert“.
In fieberhafter Angst wickelte er das Paket auf und sah nach dem Datum der Zeitung; sie war vom heutigen Tag, vom 12. Oktober. Also doch. O, er wahnsinniger Tor! Weshalb war er nicht in jener Nacht die vier Stockwerke zerschmettert zu ihren Füssen niedergefallen. Dann hätte er sie doch im Tode noch einmal an seine Brust drücken können, ihr alles das sagen können, was er um sie gelitten, wie oft er um sie geweint, wie oft für sie gebetet hatte. Dann hätte er doch wenigstens noch einmal seine Lippen auf die ihrigen pressen, ihr sagen können, dass er ihr alles vergebe und verzeihe. Sie hätte weiter gelebt, Hütte aufgehört, eine Dirne zu sein, und er, — er hätte im letzten Augenblick das höchste Glück genossen, eine geliebte Seele gerettet zu haben. Er wollte weinen, aber er fand keine Träne mehr. Sein Herz war hart, trotzdem es doch so sanft, so weich war. Dann fiel sein Blick wieder auf den Satz: „Die Leiche wurde nach dem Obduktionshause befördert“, und die traurige Wirklichkeit gewann wieder Herrschaft über ihn.
Wenn er seine Schwester noch einmal sehen wollte, dann musste er sich beeilen. Er war Mediziner und wusste, was in den meisten Fällen mit den unbekannten Leichen geschah und wie wenig Umstände man machte. Und wer sollte sie denn als bekannt rekognosziert haben? Niemand. Emmys Wirtin musste daran gewöhnt sein, dass ihre Mieterin Tage lang ausblieb; sie dachte also gewiss nicht an ihren Tod. Also blieb nur einer, der Anspruch erheben konnte, und der war er. Die Leiche musste nach dem Gesetze drei Tage ausgestellt bleiben, also war noch Zeit.
Er steckte seine kleinen Ersparnisse und seine Legitimation zu sich und stieg in eine Droschke. Er überlegte, ob es nicht besser wäre, seinen Freund, den Holsteiner, abzuholen, aber das erforderte aufs neue Zeit.
Als er am Obduktionshause anlangte, schlug es gerade zehn Uhr. Sein Herz schlug hörbar und verursachte ihm eine unendliche Bangigkeit, denn ihn schauderte vor der nächsten Minute. Er betrat den unheimlichen Raum der Leichenschau und liess seinen Blick umherschweifen. Ausser dem aufgedunsenen Gesicht einer Mannesleiche und den Leichen zweier älteren Frauenspersonen bemerkte er weiter keinen Toten. Der Anblick von Leichen schreckte ihn sonst nicht, als er aber jetzt die starren Körper sah, da beschlich ihn eine tiefe Wehmut, wenn er daran dachte, dass niemand diesen Armen eine Träne nachweinen würde.
Ein Schauer durchrieselte ihn bei dem Gedanken, dass seiner Schwester dasselbe Schicksal harren könnte.
Es blieb ihm nur noch eine Möglichkeit; sie musste sich im Obduktionssaal befinden. Er entsann sich, dass ein älterer Studiengenosse von ihm seit einiger Zeit dem dirigierenden Arzt als Assistent beigegeben war. Er frug einen der Wärter nach Dr. K. und erfuhr, dass dieser allein im Saale anwesend und gerade beim „Schneiden“ sei. Wenige Minuten später stand er vor ihm.
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