Hannchen brachte ihn erst wieder zur Besinnung. Sie erhob sich, schritt zum Waschgerät und kühlte sich das Gesicht. Sie hatte aufgehört zu weinen, aber noch immer stand sie unter dem Eindruck der grossen Erschütterung. Verhaltenes Schluchzen stieg in ihr empor, was sie mit Gewalt zu unterdrücken versuchte. Endlich fühlte sie sich soweit beruhigt, um sprechen zu können.
„Heinz, wir haben uns früher oft gezankt, haben uns auch immer wieder vertragen. Wenn ich nicht wüsste, dass Du bei Bandels ein- und ausgingst, hätte ich Dich vielleicht ausgelacht. Du wirst gewiss nicht wollen, dass ich irgend etwas thäte, was von schlimmen Folgen sein könnte. Sage mir offen und ehrlich — ist das alles wahr, was Du mir erzählt hast?“
Es war ihr, als wäre sie jetzt aus einem bösen Traum erwacht und müsste sich überzeugen, was Wirklichkeit und Schein sei.
„Aber natürlich ist es wahr! Es freut mich nur, dass Du Dich darein so schnell gefunden hast. Lass die Gesellschaft schiessen! Ein Mädchen wie Du bekommt immer noch ’nen Mann. Bedenke doch nur, dass Du einen Künstler zum Bruder hast! Schicke ihm morgen den Verlobungsring zurück, und gieb ihm in ein paar kernigen Zeilen den Laufpass. Immer stolz wie ’ne Spanierin!“
„Und er war wirklich da und hat Hand in Hand mit ihr gesessen, wie Du ebenfalls gesagt hast?“
„Das kann ich nun mit zehn Eiden beschwören! Pass ’mal auf, ich will Dir die Situation ganz genau beschreiben.“
Er stellte sich mitten ins Zimmer, brachte beide Arme in Bewegung und begann mit den Händen Linien in der Luft zu beschreiben.
„Hier ist der Korridor — riesig vornehm natürlich. Musst Dir nicht etwa so’n Korridor vorstellen, wie in ’ner Mietskaserne, wo man sich im Dunkeln die Köpfe einrennt, sondern einen Raum beinahe so breit wie das Zimmer hier: fein tapeziert, grosse Spiegel, die bis an die Decke reichen, — wie die gute Stube bei unserem früheren Hauswirt, noch feiner sogar, mit Geschmack und Farbensinn — verstehst Du?“
„Ja doch, ja doch! Komm doch nur vom Fleck.“
„Ich muss Dir doch alles ganz genau plausibel machen. ... Rechts liegen die Salons und Staatszimmer, die nur für Gesellschaften bestimmt sind, und links die Wohn- und Schlafzimmer. Ich öffne die letzte Thür und denke, der Alte, sie und das Mädel würden wie gewöhnlich gemütlich im Familienzimmer zusammensitzen. Ich trete also ein, und da seh’ ich die Bescherung! Dein ehrenwerter Bräutigam sitzt rechts am Kamin und diese Schlange Namens Hertha links. Ganz ungeniert drücken sie sich die Hände wie zwei richtige Verliebte. Natürlich zogen sie sofort die Köpfe zurück, rot geworden wie die Krebse im Gesicht — vor Verlegenheit natürlich. Und das Frechste war, Hertha stellt mir den Menschen, den ich ja noch gar nicht kannte, so ganz gleichgiltig vor, als verstände sich alles von selbst. Nun mach Dir ’mal ’n Bild! Wie jemein, was?“
„Als was hat sie ihn Dir denn vorgestellt?“
„Nun als ‚Herrn Treuling’. So schlau war sie auch, um nicht gleich zu sagen, dass er jetzt ihr Bräutigam geworden sei. Der Anblick war doch schon deutlich genug.“
„Es ist gut, ich danke Dir ... Willst Du mir einen Gefallen thun?“
„Was denn?“
„Mich zu seiner Mutter zu begleiten. Wir nehmen uns eine Droschke und sind bald da. Ich muss sie heute noch sprechen, wie ich geh’ und stehe.“
Entschlossen hatte sie den Pelzmantel vom Kleiderständer gelangt; sie legte ihn aber nicht um die Schultern, weil Heinz sofort einfiel:
„Die ist ja gar nicht zu Hanse, die ist ebenfalls dort.“ Im Augenblick war ihm nichts Besseres eingefallen als diese Ausrede. Er traute es Hannchen zu, dass sie ihren Entschluss ausführe.
„Seine Mutter auch?“ fragte sie ganz betroffen.
„Aber natürlich Das kannst Du Dir doch denken, dass die bei solch einer feierlichen Gelegenheit nicht fehlen wird!“
Hannchen wurde kleinlaut. „Ich wundere mich nur, weil mir Eberhard immer erzählte, dass seine Mutter doch ein klein wenig Neigung zu mir habe ... Aber Du hast recht, wenn er seine Gesinnung geändert hat, wird sie — —“
Sie konnte nicht weiter reden, hing den Mantel wieder an und verbarg aufs neue das Gesicht in die Hände. Aber plötzlich kam der Mut einer gequälten Seele über sie. Mit einem Ruck richtete sie sich auf und ging leidenschaftlich erregt durchs Zimmer. Eine letzte Hoffnung hatte sie durchzuckt und ihr die Kraft wiedergegeben.
„Nein, ich glaube es nicht — nie und nimmer!“ rief sie aus und machte mit den Händen eine abwehrende Bewegung, als wollte sie die Annäherung unsichtbarer Feinde verhindern. Ihre Stimme hatte einen anderen Klang bekommen; ihre Züge drückten zähen Widerstand aus.
„Du magst mir sagen, was Du willst — ich glaube nicht daran! Alles in der Welt müsste dann ja Lug und Trug sein, jedes Wort von ihm eine Heuchelei gewesen sein. Und nochmals — nein! Habe ich ihm so lange vertraut, kann ich es auch noch länger thun. Aus seinem Munde erst will ich es erfahren! Ist es dann wahr, dann will ich es glauben.“
Diese Stimmung dauerte jedoch nicht lange. Aufs neue trat der Zweifel an sie heran und machte sie unmutig und trostlos.
„Aber so beruhige Dich doch nur. So etwas geht vorüber. Die Zeit heilt alle Wunden,“ sagte Heinz wieder. Und nach einer Pause fuhr er fort: „Kannst Du mir vielleicht ein Couvert und einen Briefbogen geben? Marke habe ich. Mir fällt eben ein, dass ich einem Kollegen noch ein paar Zeilen zu schreiben habe.“
Sie gab ihm das Gewünschte. Und während sie in der Ecke des Sofas sass, den Kopf in die Hand gestützt, still brütend vor sich hinblickte, schrieb er an Bandel.
Eine Viertelstunde war vergangen, während welcher man nur das Kratzen der Feder auf dem Papier und hin und wieder einen leisen Seufzer von ihr vernommen hatte. Dann war er fertig, schloss den Brief, schrieb die Adresse, erhob sich und langte nach seinem Mantel.
„Gute Nacht, Hannchen, schlaf wohl und gräme Dich nicht,“ sagte er und reichte ihr die Hand. „Morgen ist auch noch ein Tag, und da wird Deine Stimmung eine andere sein.“
„Gute Nacht, Heinz! Danke Dir nochmals für Deinen Besuch.“
Als er sie so zusammengesunken sitzen sah, mit einem Gesicht, auf dem zum Herzen sprechender Kummer lag, zögerte er, zu gehen. Er beugte sich zu ihr nieder und küsste sie auf die Stirn.
„Soll ich, auch noch bleiben, um Dir die Zeit ein wenig zu vertreiben?“
„Nein, geh nur! Ich bin obendrein müde und abgespannt.“
Plötzlich setzte er sich wieder. „Richtig, da fällt mir ein ... Ich muss Dir doch noch die Hauptsache erzählen — Du scheinst vorher gar nicht darauf geachtet zu haben.“
Er begann ihr nun ausführlich zu berichten über den grossen Verlust, den Treuling der Ältere an der Börse erlitten haben sollte, und über alles, was er sonst über die schiefe Lage des Geschäftshauses vernommen hatte.
„Ich bin überzeugt, dass sie sich alle beide, Vater und Sohn, durch die Geldheirat nur retten wollen,“ schloss er dann und erhob sich wieder.
Hannchen hatte gespannt zugehört. Sie fühlte sich so matt, dass sie gar nicht im stande war, aufs nene ihrer Erregung Ausdruck zu geben.
Dann ging er. Kaum hatte sie das Zuklappen der Aussenthüre gehört, als sie sich ebenfalls erhob und sich vor die Papiermappe setzte, die auf der anderen Seite des Tisches lag. Sie begann zu schreiben, getrieben von der Eingebung des Augenblicks, die einem verrückten Zustande glich. Dreimal legte sie das begonnene Schreiben beiseite ... endlich glaubte sie das Richtige gefunden zu haben:
„Geehrter Herr!
Wenn es wirklich wahr sein sollte, was ich soeben gehört habe, dass Sie vor dem Bankerott stehen (Ihr Vater soll ja eine Viertelmillion an der Börse verspielt haben), dann soll Ihrer reichen Heirat mit dem Fräulein Bandel von meiner Seite aus nichts im Wege stehen. Ich weiss alles. Ihr Glück liegt mir näher als das meinige. Ich gebe Ihnen also Ihr Wort zurück.
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