Trudchen wollte sich ausschütten vor Lachen und verrenkte vor Vergnügen die Glieder.
„Eine ganze Wasserleitung voll, mein Herr,“ fiel sie dann lustig ein. „Ich kann Ihnen auch gleich welchen hier aus der Wanne geben, dann brauch’ ich nicht mehr ’rauszugehen. Es ist ganz rein, ich habe nur die Hände drin gehabt.“
Sie wollte das Glas nehmen, aber der Alte wehrte sie lachend ab: „Das nächste Mal, das nächste Mal! Für heute habe ich doch genug. Man muss mit dem teuren Wein nicht so asen.“
„Nein, was Du auch immer für Witze machst, Grossväterchen, manchmal bist Du doch zu drollig.“
„Nun will ich aber endlich zum Weihnachtsmann gehen, sonst treffe ich ihn nicht mehr zu Hause,“ sagte er dann mit gut gespieltem Ernste. Er zog die gefütterten Handschube über, setzte den Hut auf und nahm Stock und Paket. Dann reichte er Robert die Hand, gab der Kleinen einen Kuss und ging.
Er suchte die nächste Postanstalt auf, gab das Paket ab und bestieg hierauf die Pferdebahn, die ihn beinahe bis an sein Ziel brachte.
„Ist der Herr Fabrikbesitzer zu sprechen?“ fragte er freundlich aber würdig, als er den Fabrikhof durchschritten hatte und nun an der geöffneten Thür des grossen Comptoirs stand.
Man bat ihn, einzutreten, und zwar in etwas herablassender Weise, da man sofort einen Blick auf seine Kleidung geworfen hatte, die eher auf einen kleinen Handwerksmeister als auf einen „Kunden“ hinwies. Der alte, ausgediente Zylinderhut, der immer noch den Trauerflor zeigte, und das dicke Halstuch, das etwas wild über den Kragen des Überziehers hinausragte, gaben den gezierten jungen Leuten zu denken.
Als er aber die Kopfbedeckung abgenommen hatte und das ehrwürdige, edle Haupt mit dem silberweissen Haar nun voll zur Geltung kam, fühlte man sich doch veranlasst, ihm mit zuvorkommender Höflichkeit zu begegnen.
„Wünschen Sie den Herrn Chef in Geschäftsangelegenheiten zu sprechen?“ fragte ihn ein hochaufgeschossener, bartloser junger Mensch, der jedenfalls ein Lehrling war.
„Ja ... das heisst — eigentlich auch in Privatsachen,“ erwiderte er.
„Ist es denn sehr dringend?“
„Sehr!... Herr Treuling ist doch anwesend?“
„Allerdings, aber ich weiss nicht, ob er jetzt gerade zu sprechen sein wird. Er hat nämlich sehr viel Konferenzen.“
„Das kann ich mir wohl denken,“ fiel Vater Wilhelm etwas spöttisch ein, worauf der junge Mann ihn gross anblickte. „Aber gerade eine ganz ähnliche Konferenz möchte ich mit Ihrem Herrn Chef ebenfalls haben.“
Einige der Herren an den Pulten hatten die Köpfe erhoben und hörten nun aufmerksam zu, nachdem sie unwillkürlich einen Blick auf die kleine Thür mit matten Scheiben geworfen hatten, die zu einem kleinen Gang führte, der sich mit dem Arbeitszimmer des Chefs verband. Das Wort „Konferenz“ hatte sie plötzlich stutzig gemacht.
Seit acht Tagen ahnten alle, dass etwas in der „Luft“ liege, was eng mit dem Zustande des Geschäfts zusammenhängen müsse. Man hatte hin und her geraten, bis man schliesslich auf den Gedanken gekommen war, der „Alte“ habe wieder grosse Verluste an der Börse gehabt, deren Deckung ihm Kopfschmerzen verursachte. Man wusste gar nicht, wie richtig man geraten hatte. Nicht im entferntesten dachte man daran, dass das Geschäft an und für sich darunter leiden könnte, war man doch überzeugt, dass das Privatvermögen des Chefs ausreichend sein werde, um etwaige Schäden gut zu machen — Schäden, die jedenfalls nicht zu gross sein würden. Denn ein so gewiegter Geschäftsmann wie Carl Friedrich Treuling würde sich jedenfalls niemals in allzuhohe Spekulationen einlassen, ohne das Bewusstsein dabei aufzugeben, genügendes Kapital hinter sich zu haben.
Buchhalter und Kassierer namentlich waren dieser Meinung, und die mussten es doch zu allererst wissen. Der erstere stellte einen ausserordentlich grossen Reingewinn für dieses Jahr in Aussicht, und der letztere erklärte die Kassenverhältnisse für ganz vorzügliche. Allerdings hatte er nicht die geringste Ahnung von den Wechseln in Höhe von beinahe einer Viertelmillion, die gleich Würgengeln des Kaufmannsstandes im Hintergrunde lauerten.
Kein Tag verging, ohne dass sich nicht etwas Besonderes ereignet hätte. Heute früh, gleich nach neun Uhr, hatte es hinten im Arbeitszimmer des Alten zwischen Vater und Sohn einen Auftritt gegeben, wie man ihn zuvor niemals erlebt hatte. Als der Kassierer die Glasthür geöffnet hatte, um den Gang zu betreten, war er entsetzt zurückgeprallt — derartig hatte ihn das Zorngeschrei des Alten entsetzt.
Niemand wagte hineinzugehen. Und als Treuling der Jüngere dann ins grosse Comptoir getreten war, hatte man ihm die Erregung vom Gesicht ablesen können, dessen Blässe auffallend gewesen war.
Alles zitterte vor Treuling dem Älteren, und so war es ganz natürlich, dass man es zu vermeiden suchte, ihn unnötig zu belästigen.
„Es wäre mir auch eben so angenehm, den jungen Herrn Treuling zu sprechen,“ sagte Vater Wilhelm wieder, da er nicht aufdringlich erscheinen und diesen Gang nicht unnütz gemacht haben wollte.
„Dann müsste ich erst recht bedauern; Herr Treuling junior ist augenblicklich nicht anwesend.“
Nun sagte Vater Wilhelm ziemlich kurz:
„Dann muss ich Sie bitten, mich dem alten Herrn zu melden! ... Mein Name ist Tetzlaff ... Wilhelm Tetzlaff. Der Herr Chef kennt mich bereits persönlich.“
Nach diesen Worten hörte man ein halbes Dutzend Pultschemel zu gleicher Zeit knarren infolge der plötzlichen Wendung, die die Körper der auf ihnen Sitzenden machten; und ebensoviele Armbewegungen deuteten darauf hin, dass die Feder ihre Arbeit eingestellt habe.
Von dem letzten Pult löste sich eine mittelgrosse Gestalt mit freundlichem Gesicht und trat näher. Es war Herr Knauerhase, der die Chefs in dringenden Angelegenheiten zu vertreten hatte.
„Ich irre mich wohl nicht — der Herr Grosspapa von der Braut des jungen Herrn Chefs?“ mischte er sich mit ausgesuchter Höflichkeit in das Gespräch.
„Zu dienen, mein Herr, der bin ich.“
„Haben Sie die Güte, und nehmen Sie einstweilen Platz! Ich werde Sie sofort anmelden.“
Er schob ihm einen Stuhl hin und schritt der Thür mit den matten Scheiben zu, während der Alte nach geäussertem Danke sich niederliess.
Aufs neue knarrten die Drehschemel, und die Gesichter wendeten sich nun den Fenstern zu, um das boshafte Lächeln zu verbergen. Seit langem amüsierte man sich bereits innerlich über die „verbohrte Idee“ Treulings des Jüngeren, wie man dessen Heiratsplan im geheimen nannte. Und nun genoss man das Vergnügen, das Oberhaupt der zukünftigen Verwandtschaft in eigner Person vor Augen zu haben. Wie ein Geheimer Kommerzienrat sah er allerdings nicht aus, davon war man sofort überzengt.
Einige der jungen Leute stiegen von den hölzernen Böcken herab, traten zusammen und machten spitze Bemerkungen über den „hohen Besuch“.
„Er kommt wohl, um die Höhe der Mitgift festzusetzen, wie?“ flüsterte der eine, worauf nach einem unterdrückten Kichern ein zweiter sofort einfiel:
„Ich mache den Vorschlag — wir schenken ihm zur Hochzeit einen neuen Zylinderhut.“
Unterdrücktes Lachen folgte aufs neue. Plötzlich wurde die Glasthür hinten wieder geöffnet, und die kleine Gruppe stob auseinander. Jeder bestieg seinen Drehschemel. Einer der Vorwitzigsten rief laut: „Herr Knauerhase, jagen Sie uns doch nicht immer solchen Schreck ein!“
Der Augeredete erwiderte nichts, sondern wandte sich sofort an Vater Wilhelm:
„Herr Treuling lässt lebhaft bedauern ... Ob Sie nicht die Güte haben wollten, sich morgen nachmittag herzubemühen? Der Chef ist augenblicklich sehr beschäftigt und muss sogleich in die Stadt.“
Das hat doch wieder etwas zu bedeuten — dachten die übrigen Comptoiristen und warfen sich aufs neue bedeutungsvolle Blicke zu.
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