Sie warf sich befreit in den Schnee. Sie streckte sich lang aus und stand wieder auf. Sie betrachtete lächelnd den Abdruck ihres Körpers im Schnee. Soviel ... so wenig wie der Abdruck im Schnee war ihre Liebe zu Rüdiger von Dauer. Noch konnte man den Abdruck sehen im vergänglichen Schnee, im kältenden. Der Schnee aber würde verwehen, würde verschmelzen. Ein neuer Frühling kam. Die Erde, die fruchtbare Erde würde wieder da sein und ... ja, irgendwo mußte man wurzeln. Mußte man? Im Schnee gab’s keine Wurzeln.
Zurück vom Spaziergang. Abendessen. Holzholen. Den erkalteten Ofen anheizen. Bettine eine Geschichte erzählen. Sie waschen, sie kämmen. Beten mit ihr. Muß man mit Kindern beten, wenn man selbst nicht glaubt? Wahrscheinlich glaubte sie doch ein wenig. Sie betete gern, sie faltete die Hände und flüsterte innig:
Nimm mich in Deinen Schutz hinein
Und laß mich stets Dein Kindlein sein.
Und hatte ER sie denn nicht beschützt, sie nicht geführt, ihren Untergang verhindert und die Fluten der Verzweiflung immer wieder ablaufen lassen?
Nimm mich in Deinen Schutz hinein
Und laß mich stets Dein Kindlein sein.
Tellerabwaschen. Einen Brief an Rüdiger schreiben. »Meine Gedanken sind um Dich, und meine Wünsche wünschen Dir alles, was Du Dir wünschst.« Endlich, endlich wieder das Manuskript.
Sie schrieb langsam, zäh, nachdenklich: Es ist nichts mehr zu berichten. Das erste Feuer, durch das ich hindurchblickte, brennt von neuem. Es ist der Ofen neben mir. Gebe das Schicksal, daß immer genug Holz da ist, diesen Ofen zu heizen! Das zweite Feuer aber, das Feuer in der Nacht vom 22. zum 23. November 1943, ist verloschen. Andere Feuer brennen in Berlin und fressen die Stadt. Und das dritte Feuer ist auch verkohlt, verascht, vergangen wie der welkende Wildrosenkranz. Und hinter ihm, nein, durch ihn eingerahmt, taucht das Gesicht Geisbergs auf, mit dem sich eine lange Freundschaft durch viele Jahre erhalten hat, eine »schriftliche« Freundschaft, aus Briefen und Notizen bestehend, von denen manche in seinen letzten, kaum mehr bekannten Büchern stehen.
Es ist Zeit, schlafen zu gehen, schrieb sie, mich neben das Körperchen Bettines zu legen, das heiße Leben des Kindes zu spüren, dem ich das Leben gegeben habe. Nicht freiwillig, sondern unter tausend Bedenken, weil das Leben eben doch ein bißchen zu schwer ist.
Sie schrieb. Sie grübelte. Nach vorne sehen und nicht rückwärts! Das war so ein banaler Mutspruch ihres Vaters, des Obristen, gewesen, und er schmetterte ihn hinaus wie einen Weisheitsspruch und strich sich das Bärtchen dazu. Nach vorne sehen – und nicht rückwärts! Das war es auch, was Lots Weib befohlen wurde, als Gomorrah brannte, und sie erstarrte zur Salzsäule. (War’s etwa eine Säule aus dem Salz der Tränen, weil sie über den verlorenen Besitz flennte?) Aber kann man denn nach vorne blicken, ohne wenigstens zu spüren, woher man kommt, und daß man durch den Lebensweg eben so geworden ist, wie man ist, und daß man immer gleichzeitig das ist, was man ist, und das, was man war, und es ist nicht ganz klar, was man ablegen kann?
Der Versuch, ein paar Jahre meines Lebens abzulegen – so schloß sie jetzt ein wenig eilig, weil die Kerze hinter dem Pappschirm schon ungeduldig im Vergehen aufflackerte –, ist hier in diesen Seiten gemacht. Bin gespannt, ob es dadurch lebendiger wird oder vergänglicher.
Ende 1946
Wie es zu gehen pflegt: Ich hatte das Jenaer Kapitel in meinem Frankfurter Hotelzimmer zu lesen begonnen. Auf der Rückreise war es unmöglich, weiterzulesen. Ich hockte im D-Zug-Gang, zwischen Kartoffelsäcke eingepreßt, auf meinem Koffer. Draußen schlackerte ein grobflockiger Schnee herab und verklebte die Fensterscheiben. Drinnen im Zug dampfte Übellaunigkeit, Erschöpfung, Neid aus den Menschen. Die Inhaber der kleineren Kartoffelsäcke beneideten die Inhaber der größeren, und wer gar keinen hatte, schimpfte, wenn er im Storchengang über die Säcke zu dem schmutzigen WC klettern mußte, aus dem immer erst ein paar Menschen zu vertreiben waren, die sich dort häßlich-häuslich eingerichtet hatten. Es war keine Szenerie, in der man über die zarte, fünfundzwanzig Jahre zurückliegende Liebesgeschichte einer Studentin nachdenken konnte. Die triste, schlechtriechende Gegenwart, in der einer des anderen Feind war, schon deshalb, weil er das bißchen Lebensluft des Nächsten verbrauchte und verstänkerte, diese triste Gegenwart verstellte jeden Rückblick und Ausblick. Man hatte nur den einen Wunsch, daß die Fahrt mal ein Ende nehmen möge. Ich vergaß also die Begegnung mit Lucia Bernhöven, ihren Gesang, ihre Darstellungskraft, ihr Zimmer bei Mammi Trömner und ihr Manuskript.
Zu Hause stellte ich die Mappe irgendwo ab. Der Winter war kalt und hart. Wir lebten sehr eng in dem einen Zimmer, das man heizen konnte. Die Bücher stapelten sich dort. Die Briefe, die Manuskripte. Alles wurde übereinandergeschichtet, und was einmal nach unten geraten war, das blieb auch unten liegen.
Erst als der Frühling kam, ein ziemlich früher, nach all den Nöten und Engen herzlich begrüßter Frühling, konnte man Ordnung machen. Fast zufällig fand ich das Manuskript Lucia Bernhövens wieder und las es zu Ende. Ich begriff nicht gleich, warum Lucia ihre jetzige Existenz durch das Fernglas der Erinnerungen anschaute, oder vielmehr die Erinnerungen durch das umgedrehte Fernglas der Gegenwart. Jetzt weiß ich, daß man am ehesten ein plastisches Bild des Lebens bekommt, wenn man gleichzeitig das Vergangene und das Gegenwärtige empfindet und betrachtet. Das ist von der Seele her gesehen verständlich. Denn die Seele lebt nie allein in der kahlen Dimension der Gegenwart, sondern mindestens gleichzeitig in der Vergangenheit, und bei vielen auch in der Zukunft, im Futurum. Und wie es gewisse Pflanzen gibt, die sich nach der Sonne drehen und die man deshalb heliotrop nennt, so sind in jedem Menschen Elemente, die man vergangenheitszugewendet oder zukunftszugewendet, futurotrop, nennen könnte.
In dem Bericht Lucias spürte ich besonders stark dieses Zukunftszugewendete, das heißt, das Grundgefühl, daß sie mit ihren sechsundvierzig Jahren noch ganz und gar unfertig war und ihre eigene Gestalt erst werde finden müssen.
Ich schrieb meinen Eindruck in einem langen Brief an Lucia nieder. Dann fiel mir erst ein, daß ich ihre Adresse gar nicht hatte. Ich erkundigte mich bei meinem Freund Rabner in Frankfurt, der uns ja zusammengebracht hatte. Er antwortete kurz und überheblich, die Bernhöven sei zuletzt in Stuttgart aufgetreten und habe es gegen seinen, Rabners, Rat mit lyrischen Liedern, mit der Herzlichkeit also, versucht. Damit konnte sie natürlich keinen Erfolg haben. Ihre Anhänger, die Härte und Witz von ihr verlangten, habe sie befremdet, und neue Freunde habe sie sich damit nicht gewonnen. Jetzt sei sie übrigens – wahrscheinlich von ihrem Mißerfolg beeindruckt – in der Versenkung verschwunden. Er, Rabner, glaube nicht, daß sie noch eine Karriere machen würde. Solche Überraschungserfolge wie der Lucias seien nun mal ausnahmslos Eintagserfolge, durch die Nachkriegswirren verständlich, und vergänglich wie die Jahreszeiten. Rechtens vergänglich: denn eine Künstlerin sei Lucia nie gewesen.
Ich mußte über diese Kritik Rabners lachen. Er hatte mir Lucia Bernhöven ein halbes Jahr zuvor als seine große Entdeckung gepriesen, als den klaren Beweis, daß das Dilettantische richtiger und wirkungsvoller sei als die »sogenannte« Kunst (ein Blödsinn, der alle Jahrzehnte einmal neu aufgetischt wird).
Nun: jedenfalls konnte ich nicht erfahren, wo Lucia war. Sie meldete sich aber im Spätherbst 1946 mit einem erstaunlich vergnügten Brief. Sie habe in der Zwischenzeit eine kleine Erbschaft gemacht, die in der Hauptsache aus allerlei häßlichem, aber kostbarem Schmuck bestand (von einer uralten, längst vergessenen, höchst verschrobenen Tante, der Schwester und dem Widerbild ihrer Mutter). Diese Erbschaft sei ein wahres Himmelsgeschenk, da sie sich von ihrem zweiten Mann, Herrn von Tweeren, getrennt habe, vor allem aber, weil die Rückkehr ihres Sohnes erster Ehe, Bernd Grödinger, aus amerikanischer Gefangenschaft bevorstehe. Für diesen Jungen wolle sie nun eine Heimat, ein Retiro, eine Zukunft schaffen. Sie habe sich in dem Harzdorf Braunlage ein Grundstück gekauft und den Grundstein zu einem kleinen Häuschen gelegt, das im Frühjahr fertig werden würde. Jetzt sei sie im Aufbruch nach München, wohin man sie seltsamerweise für zwei Monate verpflichtet habe. Freilich werde sie wohl die alten Lieder singen (»wenn es so weitergeht, dann geht’s nicht weiter«) und das Herz aus rubinrotem Glase tragen müssen, das die Zuschauer als eine Art Symbol nähmen. Für was ein Symbol ... das wisse sie leider nicht.
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