Geisberg rückte zwei Stühle auf den Balkon, von dem aus man bei einem sanften, zuweilen von leichtem Gewölk verschatteten Mondschein auf die Lichter der Stadt sehen konnte. Er hatte herrisch noch eine Flasche Sekt und – o Wunder – zwei Gläser von Marswede verlangt. Er öffnete sogar selbst die Flasche, schenkte ein und stieß mit Lucia an. Dabei lächelte er ein wahrhaft liebenswürdiges, werbendes Lächeln. Er war überhaupt natürlich, menschlich und auf eine herzliche Weise bewegt. Das ganze Kasperletheater der Bedeutsamkeit (so hatte Reinhold respektlos seine Allüren in der Öffentlichkeit genannt) hatte er abgetan. Nur das fünf Minuten lange »besinnende« Schweigen war noch geblieben. Dann aber sprach er männlich und warm. Tastend und vorsichtig und nicht ohne Selbstironie: Er sei durchaus kein tiefer Brunnen, aus dem jeder Hinz und Kunz unerschöpflich Erkenntnisse herausschöpfen könne, sondern zuweilen vertrocknet und verdorrt und quellenlos. Ähnlich nur von fern dem Bild, das sich die Aristen von ihm malten. Aber er wolle dieses Heiligenbild ruhig »in der Kirche« hängen lassen. Lucia habe jedoch vermittels ihres helläugigen Herzens erkannt, daß er durchaus noch nicht festgefahren sei in jenen Kernsätzen und Leitsprüchen, die seine Anhänger als Geisbergsche Grunderkenntnisse zu verbreiten pflegten. Es sei ihm merkwürdig gewesen, eine entschiedene, mutige und dennoch weibliche Frau zu treffen, die ihn anerkenne und nicht einfach kritiklos hinnehme oder ablehne. Der bedeutende Geist – und er, Geisberg, wisse selbstverständlich um seine eigene Bedeutung – lebe leider zumeist in einem luftleeren Raum zwischen absoluter Anerkennung durch die Anhänger und absoluter Verneinung durch die Gegner. Aber das nur nebenbei. Weswegen er sie gebeten habe, noch dazubleiben und ihm, dem Alternden, ein paar kostbare, unwiederbringliche Stunden zu schenken: Er habe immer das absolute Primat des Männlichen aus vollster Überzeugung vertreten und die lächerlichen Mütterlichkeitsapostel und Matriarchatler abgelehnt, und das tue er auch noch. Aber die Wege der letzten Jahre hätten ihn an einigen Frauen vorübergeführt, die ihm gewisse Zweifel an der Überlegenheit der Männer ins Gedankenbeet gesät hätten. Bisher habe er alle aufgehende Saat als Unkraut ausgerissen. Nun aber müsse er wider Willen begreifen – »ja, ja, Lucia, Sie spielen eine bedeutende Rolle in meinem Leben« –, daß er Ausnahmen zuzugestehen habe, daß es also doch mit der Theorie des Logos spermatikos oder der hormonalen Überlegenheit des Männlichen nicht seine absolute Richtigkeit habe. Er bitte sie also um ihre Freundschaft, die nichts weiter zu sein brauche als das Versprechen, ab und zu einen Gedankenbericht aus ihrem Leben an ihn abzugeben. Denn er müsse nun an einen etwas mühsamen Umbau des Gedankengebäudes gehen. Er müsse den Frauen, die sich hier, da und dort als Vertreterinnen eines ganz neuen Frauentyps zeigten (oder Menschentyps, das wisse er noch nicht), eine gewisse Rolle zuerkennen, über deren Umfang er sich ohne Lucias Hilfe und ohne die Hilfe jener paar anderen Frauen keine Klarheit verschaffen könne. »Sie sind klüger gewesen als ich«, sagte er zum Schluß, »und ich gestehe, daß ich darüber nicht traurig bin, sondern, weil’s das im Augenblick Notwendige hervorbrachte, sehr zufrieden. Für uns beide ist es wichtiger, eine mann-weibliche Freundschaft zu schließen, die ich bisher abgelehnt habe, als uns in jene Beziehungen zu begeben, deren Dauer auf wenige Sekunden oder Minuten begrenzt ist.«
So ungefähr sprach Geisberg an jenem Abend. Wenn man diese Unterhaltung aufschreibt, so klingt das gestelzter, als es war. Es war nämlich alles ganz einfach gemeint, und das junge Mädchen Lucia wurde durch die Freundschaftserklärung so heftig erschüttert, daß man das Folgende vielleicht begreifen kann. Sie beugte sich nämlich voller Rührung über Geisbergs Hände und küßte sie. Er nahm das mit einer reizenden Verlegenheit entgegen, strich ihr über die Haare, schob sie auf ihren Sessel zurück und begann friedlich, freundlich und mit einem bissigen Humor über sein Leben, seine Armut, seine Kämpfe, seine Erfolge zu berichten, über seine Erdenspur, wie er das nannte, deren kometenhafter Aufstieg auf seinem Zenit angekommen sei und sich nun dem Abstieg zuneige. Denn in dem Augenblick, in dem ein Philosoph oder Lebenskünder, der er eigentlich sei, von seiner Einseitigkeit ablasse, müsse es mit seinem Erfolg bergab gehen, da nur der Einseitige Anhänger haben könne, und der wahrhafte Denker, der die Dinge rund denke oder wenigstens eine eigene Gedankenarbeit verlange, nichts als Zweifel hinterlasse. Niemand zahle außerdem dafür, daß er selber denken müsse.
Mit solchen Gesprächen verbrachten sie die halbe Nacht, fast bis zur Morgendämmerung, und verabschiedeten sich heiter und als Freunde. Als Lucia aus dem Hause trat, sah sie, wie die beiden Aristen Gaston Levy und Gellewein eiligst davonrannten. Sie hatten vor dem Hause Wache gestanden, um festzustellen, was eigentlich zwischen Geisberg und Lucia geschehen sei. Sie mußte wieder einmal herzlich lachen. Nun wußten die beiden etwas ganz Falsches.
Damit endete das Kapitel Jena. Denn der Abschied von Reinhold, der Bruch mit ihm, den sie noch am letzten Tag mit Entschiedenheit vollzog, war nicht mehr bedeutungsvoll, da sie ihn ja schon Wochen vorher vollzogen hatte. Die innere Entscheidung entscheidet allein. Ach, was für ein kluger Satz! Wie lange kann man mit einem Menschen leben, von dem man sich innerlich schon längst getrennt hat, und dieses tagtägliche Zusammenleben mit seinen tausend Kleinigkeiten soll unerheblich, soll nicht entscheidend sein? Was für ein Trugschluß!
Dieses letzte hatte Lucia von Tweeren, 44 Jahre alt, im Hause des Bauern Mowranke im Angesicht des Sees, der der Plüggen genannt wurde, geschrieben. Die Sonne war weggerückt. Bettine, die Achtjährige, war gekommen, hatte eifrig plappernd zu Mittag gegessen und war wieder mit klappernden Schlittschuhen davongestürmt, um mit Christel Mowranke und Gerd Ulrich Welz, den gleichaltrigen Schlittschuhmatadoren, Eislauf zu üben. Lucia hatte sich gegen vier Uhr die Stiefel angezogen, die der Schuster Neugebauer aus Gnade und Barmherzigkeit (und für sechshundert Mark) angefertigt hatte, den kurzen Schottenrock, den geretteten uralten, der über den Hüften spannte, die Windjacke, die hellblaue Strickmütze. So marschierte sie durch den knöcheltiefen Schnee den Dumpel entlang, den verwachsenen Pfad zwischen den Seen, zwischen Weidengebüsch, in dem Scharen hungriger Meisen aufschwärmten und aufzwitscherten. Verhundertfacht, vertausendfacht die Meisen von Jena, die Meisen jenes Sonnenwendmorgens am Berghang. Hatte sich etwa auch die Liebesfülle jener Meisenminuten verhundertfacht, vertausendfacht? Sie roch wieder die Gerüche jenes Morgens, betautes Getreide, Gras, warme Felswand, ja – der Gerüche erinnerte sie sich genau, und an das Gesicht Reinholds? Höchst ungenau. An seine Stimme? Kaum. An seine Worte? Nun, ein paar waren jetzt niedergeschrieben, mühsam dem Vergessen entrissen. Er selbst war 1925 nach Rußland ausgewandert. Vielleicht hatte er dort die Verwirklichung seiner politischen Träume erlebt. Wahrscheinlich hatte er eine schwere Enttäuschung und einen einsamen Tod gefunden. Wer wußte das? Auch in ihrem Herzen lebte er nicht mehr. Gestorben. Verschwunden. Verschollen.
Sie war einen Hügel hinaufgestapft. Junge schäbige Kiefern wuchsen dort. So weit sie blicken konnte: Schnee, der wäscheweiß zu ihren Füßen lag, grau-weiß den Hügel hinan und bläulich auf den anderen Hügeln. Sie stand lange und sah zu, wie die Sonne nach unten rückte, den Himmel rötete und den Schnee dann rosa überspann. Daneben, wohin die Sonne nicht hinabreichte, lagen violette Schlagschatten.
Sie stand eine halbe Stunde regungslos. Hier war Einsamkeit, die sie immer ersehnt hatte. Tat sie wohl, tat sie weh? Schwer zu sagen. Sie dachte an Rüdiger von Tweeren, ihren Mann, der auch in Rußland war. Aber nicht freiwillig, sondern kommandiert als Soldat. Sie dachte an ihn ohne Schmerzen und ohne Liebe. Wenn er nun nicht zurückkehrte? Oh – er sollte zurückkehren! Sie wünschte es von ganzem Herzen. Ihm wünschte sie es, damit er weiter so herzlich lachen, weiter so viele Frauen lieben konnte, weiter Geschäfte machen und weiter das Leben durstig trinken. Aber sich ... sich wünschte sie es nicht. Sie wollte nicht weiter mit ihm zusammenleben. »Eine herrliche Ehe«, sagten die Freunde immer, »sie ist so gescheit, so tolerant. Er so hinreißend charmant. Die lieben sich wahrhaft. Sie verzeiht ihm alle Abirrungen. Er hat es wahrhaft gut.« Ja, er hatte es gut. Und sie hatte ihn lange, lange geliebt oder geschätzt oder sehr gern gemocht. Aber mit jeder seiner Liebeleien hatte er doch ein Stück der Liebe aus dem Hause getragen, und nun war nichts mehr da.
Читать дальше