»Danke!« Erleichtert schlug ich ein und mit einigen Mühen schafften wir es, mich aus dem engen, tiefen Loch herauszumanövrieren.
»Danke, wirklich, allein wäre ich da nie herausgekommen«, wiederholte ich, doch das Mädchen lachte freundschaftlich. »Ach, schon gut. Die Idioten von der Stadt tun so was ständig, sie buddeln Krater mitten auf Straßen oder in Fußgängerzonen und lassen sie dann ohne Warnung offen stehen, das geht oft wochenlang so und du bist nicht die Einzige, der so etwas passiert, leider.«
»Wieso, kennst du noch jemanden, der in so eine Grube gefallen ist?«, fragte ich, während ich mir den Staub von der Jeans klopfte.
Sie nickte. »Mein Freund und ich waren vor zwei Jahren in Beyoğlu unterwegs. Dort war gerade ›Habitat‹, irgendein Projekt zur Verschönerung der Stadt. Mein Freund Serkan und ich waren frisch verliebt und hatten nur Augen füreinander. Dann habe ich mal kurz eine Auslage im Schaufenster bewundert und Serkan war von einer Sekunde auf die andere verschwunden. Im wahrsten Sinne des Wortes vom Erdboden verschluckt, wie ich einen Moment später festgestellt hatte.«
Ich stimmte in ihr Lachen ein.
»Darf ich dich zum Dank vielleicht zu irgendetwas einladen?«, schlug ich vor, denn ich mochte ihre natürliche Art, sie erinnerte mich ein wenig an Saskia.
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nett, aber ich muss leider weiter, zur Fahrschule. Aber vielleicht sehen wir uns ja morgen in der Schule?«
»In der Schu...?«
»Du kennst mich nicht, aber ich habe dich schon gesehen, du bist in der Zehn, ich bin zwei Klassen über dir.«
»In Noyans Klasse?«, rutschte es mir heraus und ich wurde rot.
»Soso, DER ist dir also aufgefallen, ja?«, neckte sie mich.
»Nein, er ist nur ... äh ... mein Nachbar.«
»Ich heiße übrigens Seval.«
»Lara.«
»War nett, mit dir zu reden, bis demnächst!« Sie winkte und lief zügig davon, wobei sie gekonnt die Massen der Menschen teilte, die sich vor ihr herschoben.
Zum Weitergehen war ich jetzt zu müde. Ich überquerte eine Ampel und hielt von der rechten Straßenseite aus eines der gelben Sammeltaxis, einen Dolmuş an. Die fuhren fast an meiner Haustür vorbei und kosteten nur fünfzig Cent.
Im Spiegel des Fahrstuhls bemerkte ich, dass ich noch immer Eis in den Haaren kleben hatte. Es war inzwischen zu einer unappetitlichen gräulichen Masse zusammengetrocknet, aber merkwürdigerweise störte mich das nicht besonders. Ich kicherte leise, als ich mir vorstellte, wie ich so halb in dem Loch versunken ausgesehen haben musste.
»Du bist wahrhaftig das merkwürdigste Mädchen, das ich je kennengelernt habe, kleine Nixe«, ertönte es plötzlich hinter mir.
Erschrocken drehte ich mich um. »Wieso?«
»Heute Mittag noch habe ich gedacht, jemand wäre gestorben oder so etwas, und jetzt verliebst du dich gerade in dein Spiegelbild, wie’s aussieht.« Noyan grinste.
»Und wenn schon.« Ich bemühte mich nach Kräften, nicht rot zu werden, und drehte mich so, dass Noyan die Eisreste in meiner neuen Frisur nicht sehen konnte. »Dafür, dass mich euer verdammter Direx gezwungen hat, mich umzustylen, sehe ich doch nicht übel aus, finde ich.«
Noyan musterte mich. »Tust du das öfter?«
»Was? Lachen?«
»Ich meinte, ob du dir ständig durch Eigenlob schmeichelst. Steht dir nicht gut zu Gesicht, weißt du.«
Ich schnappte empört nach Luft, wusste aber nicht, was ich sagen sollte.
»Schönen Abend noch!« Er winkte mir zum Abschied, bevor die Fahrstuhltür sich schloss und er dahinter verschwand.
»Vollidiot!« Ich nahm mir fest vor, nicht mehr an ihn zu denken. Trotzdem, irgendwo in meinem Kopf spukten seine braunen Augen herum und ließen sich einfach nicht mehr vertreiben, so sehr ich es auch versuchte, deshalb setzte ich mich an mein nagelneues Netbook und beschloss, meine Eindrücke aufzuschreiben.
»Roman oder Drehbuch?«, überlegte ich laut. Ich hatte schon mal versucht, einen Roman zu schreiben, dann aber frustriert wieder aufgegeben, weil ich am Ende gar nicht mehr wusste, wovon das Buch eigentlich handeln sollte.
»Also Drehbuch«, entschied ich spontan und klickte das Programm dafür auf. Die Form war schon festgelegt, ich musste im Grunde nur noch die Regieanweisungen, Dialoge und handelnden Personen eingeben. War gar nicht so schwer, wie ich gedacht hatte, und Spaß machte mir das Ganze außerdem! Auf jeden Fall war das doch kreativer, als Tagebuch zu führen.
Sehr zu meiner Erleichterung war mein Aussehen vom nächsten Tag an kein Thema mehr. Meine Klassenkameraden behandelten mich wegen meines schlechten Türkisch mit freundlicher Nachsicht und das ärgerte mich maßlos, sodass ich meistens übellaunig war und Gespräche mit ihnen mied. Ein paar Leute hatten am Anfang versucht, mit mir zu reden, sie stellten mir Fragen darüber, woher ich kam und wo ich jetzt wohnte, aber ich antwortete nur knapp und tat dann immer so, als würde ich mich in die Lektüre irgendeines Buches vertiefen, sodass sie nach kurzer Zeit aufgaben und mich in Ruhe ließen. Das war mir auch lieber. Ich wollte weder die Stadt noch die Leute, die sie bewohnten, mögen.
Die meisten in der Klasse hatten wohl den Eindruck, dass mein IQ gerade noch ausreichte, eine Banane zu schälen. Ob das wohl an meinen Leistungen im Unterricht lag? Ich zögerte, mir dies selbst einzugestehen. Gerade jetzt fragte der Geografielehrer: »Lara, lass uns mal testen, wie weit du bist. Nenne mir bitte die Hauptstadt von Amerika.«
»New York«, platzte ich heraus. Verhaltenes Kichern machte sich breit.
»Und die Hauptstadt der Türkei?«
»Istanbul«, antwortete ich selbstsicher. War doch gar nicht so schwer! Warum lachten die bloß schon wieder? Verunsichert blickte ich mich um. Das Lachen wurde lauter. Selbst die Mundwinkel des Lehrers zuckten verdächtig. »Und dann ist die Hauptstadt von Deutschland ...?
»Berlin, natürlich.«
»Gott sei Dank! Zwei falsche, eine richte Antwort, der Kandidat. Die Hauptstadt der Türkei ist ...?« Suchend blickte er sich in der Klasse um. »Ja? Ebru?«
»Ankara, natürlich«, äffte sie meinen Tonfall höhnisch nach und hatte damit die Lacher auf ihrer Seite.
»Und die Hauptstadt von Amerika?«
»Nicht New York, sondern Washington«, antwortete ein Junge. Ich rutschte in meinem Stuhl so weit nach unten, wie ich konnte. Natürlich hatte ich das gewusst, ich Esel! Warum hatte ich nur so dämliche Antworten gegeben?
»Sehr gut!« lobte der Lehrer. »Und Lara?«
»Ja?« Ich konnte meine eigene Stimme kaum hören.
»Du solltest dir gelegentlich mal einen Atlas ansehen.«
»Ja.« Ging es noch peinlicher? Hinter mir wurde geflüstert und gelacht.
Im Türkischunterricht ging es gerade so weiter. Türkisch konnte ich leidlich gut sprechen, es zu schreiben hatte ich nie gelernt. In keiner deutschen Grundschule lernt man so etwas und das Türkisch meiner Eltern ist mündlich zwar besser als meines, aber schriftlich haben auch sie Probleme. Das Alphabet ist anders als im Deutschen, es gibt zum Beispiel zwei »i«, eins mit Punkt darauf, das man so liest, wie im Deutschen und eins ohne Punkt, das wie ein unbetontes »e« ausgesprochen wird, wie in »Sonne«. Ein kleiner, aber ziemlich signifikanter Unterschied, der die Bedeutung eines ganzen Wortes verändern kann, aber hey, woher sollte ich das wissen?
»Lara, lies uns doch bitte mal deine Hausarbeit vor«, forderte der Türkischlehrer mich auf, ein bauchiger, schnurrbärtiger kleiner Mann mit streng blickenden Augen. Ich schluckte. Türkisch fiel mir fast noch schwerer als Mathe. In unserer Hausarbeit ging es darum, was wir mit unserer Freizeit anfingen. Wir sollten berichten, was wir an einem schulfreien Tag machen.
Stockend begann ich: »Bugün canim çok sikildiği için ...« Brüllendes Gelächter unterbrach mich und der Lehrer wurde hochrot.
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