Ich spazierte die belebte Straße hinunter und atmete die sommerliche Luft tief ein. Es erstaunte mich noch immer, wie warm es hier noch war. Die Straße war staubig und voller Leben, auf der anderen Straßenseite unterhielten sich zwei ältere Herren und lachten kameradschaftlich, ein Stück weiter hinter ihnen kaufte eine junge Mutter mit einem kleinen Kind an der Hand ein Schälchen Brombeeren, wobei sie die Schale sehr genau prüfte und den Preis ein wenig herunterhandelte.
Ich kam an einem Laden vorbei, in dem es ausschließlich Kopien von DVDs, PC- und Konsolenspielen gab. Ein Spiel: 4 TL, drei Spiele/Filme: 10 TL , erklärte ein handgeschriebenes Schild an der Ladentür. Obwohl Raubkopien auch in der Türkei offiziell verboten waren, gab es fast an jeder Straßenecke einen solchen Laden, der kopierte Filme oder Spiele verkaufte. An einem ähnlichen Laden war ich auch neulich mit Papa vorbeigekommen.
»Ist es nicht illegal, Kopien zu verkaufen?«, hatte ich mich gewundert.
»Stimmt. Aber nur dann, wenn die Verkäufer sich dabei erwischen lassen«, erläuterte er.
»Was soll denn daran schon schwer sein? Da muss doch nur ein Polizist vorbeikommen!«
Papa schüttelte den Kopf. »So funktioniert das nicht. Wenn ein offiziell gekleideter Beamter hereinkommt, verschwinden die Raubkopien flink unter der Ladentheke und nur die Original-DVDs bleiben in den Regalen. Sobald der Polizist wieder fort ist, geht der Verkauf weiter. Und Bestechung ist natürlich auch ein Thema.«
»Bestechung?«
»So ist das hier nun einmal. Das Gesetz ist ein wenig dehnbarer als in Deutschland.«
Auch der Friseursalon hatte ein Schaufenster, das die gesamte Vorderfront bestimmte. Der Fußboden war mit rosafarbenem Granit ausgelegt und schwarze Frisierstühle aus Lederimitat sowie eine rosafarbene Couch aus demselben Material fielen mir zuerst auf. Die Spiegel waren groß, fast überdimensional, und vor jedem Spiegel befand sich ein an die Wand montiertes schwarzes Lacktischchen.
»Irgendwie sieht das ein bisschen wie in einem Bollywood-Film aus«, schoss es mir durch den Kopf.
»Hallo!«, begrüßte mich ein Mann mit grauem Haar und freundlichen braunen Augen.
»Hallo! Ich will mir die Haare färben lassen.«
»Na, dann setz dich doch schon mal, junge Dame. Dürfen wir dir etwas zu trinken anbieten?«
»Gern.« Ich bestellte ein Mineralwasser und machte es mir auf einem der Frisierstühle bequem.
»So, dann erzähl mal, was genau hast du dir vorgestellt?«
»In der Schule sind Strähnchen verboten, deshalb soll ich mein Haar in meine Naturfarbe zurückfärben«, erklärte ich. »Ach ja, und ich soll Ihnen ausrichten, dass Nuray, die Schneiderin, mich schickt.«
»Okay, dann werden wir deinen Haaren ganz besonders viel Aufmerksamkeit schenken, wenn die gute Nuray dich schickt. Hier sind ein paar Magazine, für den Fall, dass es dir zu langweilig wird.« Er lächelte und stand auf, um die Farbe anzurühren, die er mir wenig später auftrug.
»Mann, das ist ja ganz schön dunkel!«, seufzte ich, als ich meine neue Haarpracht später in Augenschein nahm.
»Ist aber deine Naturhaarfarbe«, entgegnete der Friseur. Meine Haare waren jetzt wieder nussbraun.
»Schlammfarbe«, stellte ich laut fest und der Friseur, der Bora hieß, lachte.
»Das habe ich noch nie gehört. Aber diese Farbe steht dir sehr viel besser, wenn ich das sagen darf.«
»Sehe ich so denn nicht wie zwölf aus?« Ich war mit meinem Spiegelbild noch immer nicht wirklich zufrieden.
»Nein, das finde ich gar nicht. Ehrlich gesagt siehst du damit frisch und jung aus. Und falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Du bist ein Herbsttyp, das heißt, dass diese Farbe viel besser zu dir passt als das helle Blond. Merkst du, wie rosig deine Wangen wirken und wie deine Augen leuchten? So, wie es im Grunde sein sollte.«
Aber blond hatte ich ausgesehen wie achtzehn, wenn nicht sogar wie zwanzig, und das war in meinen Augen auf alle Fälle besser. »Da kann man wohl nichts machen«, seufzte ich wehmütig.
»Pass mal auf, wir verpassen dir jetzt auch noch einen modernen Haarschnitt, dann wirst du schon merken, dass du viel besser aussiehst!«, schlug er vor.
»Aber nur an den Spitzen. Es war eine Heidenarbeit, sie zu züchten!«
Bora nickte zustimmend und machte sich sofort an die Arbeit. Nach einer weiteren Stunde war ich fertig und musste widerstrebend eingestehen, dass die neue Lara zwar fremd wirkte, aber trotzdem nicht so übel aussah, wie ich befürchtet hatte. Mein Haar war glatt und glänzend geföhnt und wehte mir seidig über die Schultern und der modische Pony betonte meine Augen.
»Gefällst du dir?«
Ich nickte zufrieden. »Vielen Dank!«
Als ich mich auf den Weg zur Bağdat Caddesi machte, war mir schon leichter ums Herz. Ich fühlte mich so wohl wie noch nie seit meiner Ankunft in Istanbul.
Wir waren am Meer entlang in Richtung Bostanci gefahren. Der Taxifahrer hatte mich am vorderen Ende der Straße abgesetzt, dort, wo die legendäre Shoppingmeile beginnt.
Gut gelaunt bummelte ich vor mich hin, erstaunt von den Ausmaßen dieser Straße. Eigentlich, so schien es, sollte die Straße vierspurig in nur eine Fahrtrichtung befahren werden, doch die Istanbuler Autofahrer, die in einem wirren Chaos in viel zu schnellem Tempo mit überlauter Musik in todschicken Wagen von Bostanci in Richtung Kiziltoprak brausten, schien das nicht viel zu kümmern. Mal waren es drei, mal aber auch sechs Spuren. Und so wie ich das Ganze beobachtet hatte, schien alles ohne Unfälle abzulaufen. Echt erstaunlich!
Ich spazierte auf der linken Seite, aber Geschäfte gab es auf beiden Straßenseiten reichlich. Designerläden wie Louis Vuitton, Burberry, Chanel, Tommy Hilfiger, Gucci, ein Laden von Ralph Lauren, aber auch erschwinglichere Marken wie Zara, Mango und Benetton standen kunterbunt durcheinander neben Filialen von Fastfoodketten, teuren Restaurants und Trendcafés. Ich bummelte durch sämtliche Schuhgeschäfte und ein paar Kaufhäuser, ehe ich ein paar Schuhe entdeckte, von denen ich hoffte, dass der Direktor sie nicht in die Müllverbrennungsanlage beordern würde und die mir zudem auch noch gefielen. Zufrieden mit mir selbst und der Welt ging ich weiter, verspeiste auf dem Weg ein Ben&Jerrys-Eis, das unglaublich gut schmeckte, so gut, dass ich mir bei Häagen Dasz gleich noch eins genehmigte. Ich war so in meine Schlemmerei vertieft, dass ich nicht besonders auf den Fußgängerweg achtete. Warum auch? In Deutschland schaute man ja auch nicht ständig auf seine Füße, wenn man shoppen war.
Ahnungslos schlendert ich dahin und dann – wumm! – landete ich in einem engen Loch, das ungefähr so tief war, wie ich groß bin. Und das schöne Eis befand sich nicht länger in meiner Hand, sondern auf meiner Wange und in meiner neuen Frisur. Aber das war zweitrangig. Schlimmer war, dass ich feststeckte.
»Hilfe!«, krächzte ich atemlos, dann immer lauter. »Bitte helfen Sie mir!«
Die Leute, die an mir vorbeigingen, sahen sich um, zuckten aber die Schultern, als sie nichts Außergewöhnliches bemerkten, und marschierten einfach weiter. Kunststück, ich befand mich ja auch nicht mehr auf Augenhöhe mit den Menschen, sondern eher auf Schienbeinhöhe. Wer schaute da schon hin?
»Ich bin hier unten!«, hauchte ich, denn der Sturz hatte mir die Luft aus den Lungen gequetscht und ich hatte das Gefühl, jederzeit in Ohnmacht zu fallen. Oh Gott, wie peinlich! Wäre es nicht schon passiert, ich würde vor Scham im Boden versinken!
»Bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass mich keiner von der Schule so sieht!«, betete ich inbrünstig.
Da reichte mir jemand eine Hand. »Komm, ich helfe dir.« Fast hatte ich Angst, das Gesicht, das zur Hand gehörte, anzusehen. Aber es war Gott sei Dank niemand, den ich kannte, ein Mädchen mit dunkelbraunem, langem Haar und rehbraunen Augen, aus denen freundliches Mitgefühl sprach.
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