Polderblues
Alle Figuren dieses Romans sind fiktiv und alle Handlungen frei erfunden, eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen und Begebenheiten rein zufälliger Natur. Oder aber sie rühren daher, dass sich Ereignisse wie die hier beschriebenen in Wahrheit nur allzu häufig wirklich ereignen, oft lange im Verborgenen, und selbst dramatische Entwicklungen sind nicht immer eine Meldung in der Tagespresse wert.
Für Habbo
1. Ausgabe November 2021
Texte: Copyright by Susanne Tammena
Verlag:
Susanne Tammena
Dorenborg 3
26810 Westoverledingen
susanne.tammena@gmx.de
Lektorat und Korrektorat: Scriptmanufaktur, Gütersloh
Umschlaggestaltung und Satz:
Copyright by Monique Meyer, www.mmgrafikdesign.com
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Wenn man wie Dr. Conradin DeClerq einen flämischen Namen trug, der in den Kriegswirren der Jahre 1914-18 durch die Liebe eines adeligen, aber dennoch feindlich gesinnten Hauptmanns zu einer ostfriesischen Lazaretthelferin ins Rheiderland gelangt war, dann war eine freiberufliche Betätigung quasi vorprogrammiert. Nicht etwa, dass fremdenfeindliche Vorurteile einen DeClerq davon hätten abhalten können, ein braver Beamter oder tüchtiger Bäckermeister zu werden. Aber anders als einem Müller oder Janssen war einem DeClerq auch bei nur mittelmäßigen Erfolgen als Rechtsanwalt oder Arzt der Respekt seiner einfacheren Mitbürger sicher, davon war der Notar selbst zutiefst überzeugt. Der Name ließ an Weltläufigkeit und Erfahrung denken, sein Klang beschwor Erinnerungen an die großen Offiziersschulen europäischer Armeen herauf, sprach von Aufrichtigkeit, Geradlinigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Durchhaltevermögen, und war trotz des Namenszusatzes ohne die geringste Andeutung französischer Schlüpfrigkeit; ein Name also, der wie geschaffen dafür war, dort zu wirken, wo Menschen Vertrauen fassen wollten, da sie sich mit ihrem Körper, ihrer Seele oder ihrem Besitz ausliefern mussten, also beim Arzt, beim Anwalt oder beim Unternehmensberater...
DeClerqs Wahl fiel schon einige Jahre vor dem Abitur auf das Jurastudium, da er die Körperlichkeit scheute, mit der sein Vater täglich in seiner Arztpraxis zu tun gehabt hatte, und von Zahlen verstand er nichts. Außerdem entsprach der Beruf seinem Vornamen. Konrad stand für „kühner Ratgeber“, aber auch für alle Mandanten seiner
Kanzlei, die diese Bedeutung nicht kannten, klang Conradin durchaus gutbürgerlich und gesetzt, aber mit dieser neckischen Endung, die eine gute Portion Witz und Einfallsreichtum versprach.
Der Name prägte den Menschen mehr als gemeinhin angenommen, auch davon war DeClerq überzeugt. Die Wirkung, die der Klang des Namens auf seine Mitmenschen ausübte, konnte nicht ohne Einfluss auf den eigenen Auftritt innerhalb der Gesellschaft bleiben. Der richtige Name konnte, wenn schon nicht den Lebenslauf bestimmen, so doch zumindest starken Einfluss darauf nehmen. Diese Theorie war DeClerqs liebstes Steckenpferd, mit dem er sich gern und häufig beschäftigte, wenn er terminlich in seinem Notariat nicht zu stark in Anspruch genommen war.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen war dabei stets seine eigene Person, deren Werdegang und Integrität in seinem Beruf er gern damit begründete, dass sein so wohlgelungener Name ihm den Weg an die für ihn passende Stelle innerhalb der Gesellschaft geebnet hatte.
In Momenten allerdings, die von noch größerer Selbstüberzeugung geprägt waren, als DeClerq sie ohnehin in sich trug, kehrte er diese Grundüberlegung um und erhob die Folge – also seinen vortrefflichen Charakter und exzellenten und exzellenten Geschmack – in den Rang der Ursache und degradierte die Ursache – seinen wohlklingenden Namen – zu einem zufälligen Glücksgriff seiner Eltern, der frei nach dem Sinnspruch „Nomen est Omen“ wie göttlicher Goldstaub an seiner Existenz haftete.
Häufig sinnierte er vor geschäftlichen Terminen, für deren reibungslosen Ablauf seine Sekretärin bereits die nötigen Formulare vorbereitet hatte, über den dort aufgeführten Namen, um sich schon einmal ein Bild von den entsprechenden Personen zu machen. Vor einigen Monaten hatte zum Beispiel ein Harald Dirksen ein kleines Stück Grünland erworben, das am Rande der Gemeinde lag. Verkäufer war Hinrikus Boekhoff, einer der größten Landwirte des Ortes. Boekhoff - dieser Name hatte Gewicht, er barg ostfriesische Tradition in sich, er sprach vom Reichtum der Polderfürsten, die auf dem fetten Schwemmland der Marschen mit der Landwirtschaft ihr Vermögen gemacht hatten. Dazu noch die mächtige römische Endung des Vornamens – Ehrfurcht gebietend. Wie bei ihm selbst konnte dieses Zusammentreffen von bedeutendem Rang in der Gesellschaft und respektabler Größe des Namens nicht einfach dem Zufall zugeschrieben werden. DeClerq erwartete mit dem Großbauern eine echte Autorität in seiner Kanzlei. Harald Dirksen dagegen – ein unbeschriebenes Blatt. Wer auch immer sich hinter diesem dürftigen Familiennamen verbarg, hatte auch noch das Pech gehabt, von seinen Eltern mit einem solchen Vornamen gestraft zu sein. Die etymologische Bedeutung war in etwa Heerführer oder auch -verwalter, also nur eine Haaresbreite vom Verwalter, Beamten oder auch Verwaltungsfachangestellten entfernt. Harald – welch eine Freveltat, die wohl nur einem jahrhundertealten Bewusstsein der eigenen Mittelmäßigkeit entspringen konnte, in der sich der Träger des Namens Dirksen unweigerlich befunden hatte, als er am 23. 4. 1958 im Standesamt in Emden die Geburt seines Sohnes anmeldete. Von dieser Seite, so war sich der Notar sicher, stand nicht viel Interessantes zu erwarten. Vielleicht ein langweiliger, aber wohl gutmütiger Großvater, der sein Erspartes dazu gebrauchte, seinen Enkelinnen eine Ponyweide zu kaufen.
Tatsächlich sah DeClerq sich nach Eintreffen des Käufers in der Kanzlei bestätigt. Harald Dirksen war nach Aussehen und Auftreten gleichermaßen unscheinbar, der Kauf schien ihm jedoch äußerst wichtig zu sein, wie aus einigen unterdrückten Seufzern zum Spannungsabbau zu schließen war. Vielleicht war ihm auch nur die Gewichtigkeit des Notarzimmers mit seinen dunklen Eichenmöbeln unangenehm, da sie ihm seine eigene kleinbürgerliche Existenz vor Augen führte. Beim Gedanken an diese Möglichkeit frohlockte DeClerq. Stolz ließ augenblicklich seine Brust schwellen und verlieh seiner Stimme einen gravitätischen Klang.
Die Persönlichkeit des Hinrikus Boekhoff dagegen enttäuschte den Notar zutiefst. Als der Großbauer einige Minuten nach Dirksen das Büro betrat, erschrak DeClerq förmlich vor dem senilen Erscheinungsbild, das dieser bot. Der Alte schien zwar geistig völlig klar, litt jedoch an einem starken Tremor im Nacken, der seinen Kopf wackeln ließ wie bei einer schlecht kontrollierten Marionette. Wahrscheinlich hatte er Parkinson oder so etwas. Sehr bedauerlich, dass Krankheiten in der Lage sind, die Würde eines Menschen so zu untergraben , dachte DeClerq bei sich, und wie in einem natürlichen Reflex nahm der Notar, quasi stellvertretend für den alten Herrn, vor dessen gebeugter Haltung eine Verbeugung kaum angebracht schien, die Rolle als Autorität des Augenblicks ein.
Die Vertragsunterzeichnung ging schnell und reibungslos über die Bühne, eine unbedeutende Formalität, die den Besitz des Landeigentümers kaum schmälerte.
Nachdem die beiden Mandanten seine Kanzlei verlassen hatten, blieb DeClerq in Gedanken noch ein wenig bei seinem Steckenpferd und konnte es nicht verhindern, dass ihn erstmals Zweifel an der Allgemeingültigkeit seiner Thesen überkamen. Die senile Gestalt des alten Boekhoff hatte ihn verwirrt, mehr noch, sie hatte ihn in eine für ihn völlig untypische Melancholie gestürzt, in eine traurige Endzeitstimmung, die sich in seiner Seele festsetzte, als hätte sich ein dunkler Dämon hier eine Heimstatt gesucht.
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