Karl hatte nie Kunst studiert. Er hatte ausprobiert, wieder übergemalt, Neues probiert und dadurch gelernt. Das gefiel Rikus, das war grundsolide. Auch ein Lehrer, der Techniken vermittelte wie ein Steinmetz- oder Tischlermeister, konnte nützlich sein. Aber ein Professor, der vorn dozierte? Wie sollte der seiner Nichte etwas beibringen können? Ein Professor stellte sicher noch windigere Expertisen als ein Arzt. Insas lange Studienzeit, die noch immer nicht von einem Abschluss gekrönt war, schien Rikus recht zu geben. Und ein Bild hatte er von ihr auch noch nie gesehen.
Inzwischen lief ihm vor Schmerz der Schweiß in Strömen über Nacken, Brust und Bauch. Er konnte nicht richtig Luft holen, seine Lunge schien eingeklemmt zu sein, und sein nach unten hängender Kopf bescherte ihm inzwischen ein heftiges Flimmern vor den Augen. Er fürchtete schon, bewusstlos zu werden, als er endlich den Krankenwagen auf den Hof fahren hörte und aus dem Augenwinkel das Blaulicht wahrnahm.
Es dauerte einige Tage, bis Sophie und Karl davon hörten, dass Rikus im Krankenhaus lag. Als die Ärztin in der Notaufnahme gefragt hatte, ob sie jemanden informieren solle, hatte er um einen Anruf bei den Bauers in Boen gebeten. Deren Sohn Hermann arbeitete seit etwa acht Jahren bei ihm auf dem Hof, ziemlich genau seitdem Beene nicht mehr zu ihm gekommen war. Hermi war etwas zurückgeblieben und hatte nach dem Ende seiner Schulzeit an der Förderschule in Weener keinen Ausbildungsplatz bekommen. Nach einigen Jahren der Verwahrung in Fördermaßnahmen, die in Wirklichkeit eine Zeit voller monotoner Handgriffe in tristen Werkstätten waren, sprach Hermis Vater Rikus an, den er von einigen Jagdgesellschaften kannte. Rikus erklärte sich bereit, dem Jungen einfache Arbeit auf dem Hof zu geben und dann zu schauen, wie er sich machte. Vielleicht war später eine Ausbildung möglich, beide Männer hofften darauf. Zunächst sollte Hermi aber nur ein Taschengeld bekommen.
Hermi hatte sich auf dem Hof gut eingearbeitet; die Arbeit mit den Tieren machte ihn glücklich. Er kannte alle Kühe und ihre Vorlieben genau, obwohl er sich die Namen nicht merken konnte. Wenn Rikus ihn fragte, warum er Molly immer in die letzte Box am Melkstand führte, schaute er nur verwirrt. Tat er das? Schon möglich. Die wollte das wohl so. Rikus gewöhnte es sich bald ab, Hermi Fragen zu stellen. Seine Kühe waren zufrieden mit seinem neuen Hofhelfer, und nur darauf kam es an.
Im Sommer übernahm Hermi das Kühe Treiben vor und nach dem Melken, dazu imitierte er Rikus‘ Art, durch die Zähnen zu pfeifen. Jeder Hof hatte seinen eigenen Ruf für die Tiere, einige der Nachbarn riefen sie mit einem schrillen ‚jiiiih‘ oder einem schnellen ‚hepp hepp hepp‘, doch Rikus’ Kühe wurden seit Generationen mit einem Pfeifton angelockt, der für sie so unwiderstehlich klang wie der Ruf des Rattenfängers. Und Hermi pfiff voller Inbrunst in betörender Monotonie, als gelte es wirklich, die Tiere allein durch das Pfeifen zusammenzurufen.
Wenn die Kühe mit schwankenden Eutern über die Wiese auf ihn zukamen, lobte er sie so überschwänglich, als seien sie junge Hunde, denen man das Apportieren beibrachte.
„Ihr Lieben, da kommt ihr schon, brave Viecher, ganz brave Viecher, kommt ihr zu Hermi, das ist toll, ihr seid lieb ...“
Mit leiser, zärtlicher Stimme sprach er auf sie ein und lockte zwischendurch immer wieder mit einem langen Pfiff. „Pfüiiih, pfüiiih ...“
Wenn Rikus Hermi pfeifen hörte, wurde er oft schwermütig. Der Ton klang so berauschend schön und Hermi beherrschte ihn so wunderbar, als hätte Gott ihn als seinen Nachfolger geschickt. Doch Hermi würde niemals allein zurechtkommen, nicht auf dem Hof und auch sonst nicht im Leben. Immer gleiche Abläufe konnte er sich merken und er konnte mit den Tieren umgehen, doch darüber hinaus konnte er nur wenig, sodass ein selbständiges Arbeiten nicht infrage kam. Die Idee einer Ausbildung war schnell wieder vom Tisch, den schulischen Anteil daran hätte Hermi niemals geschafft. Trotzdem hatte Rikus ihn ins Herz geschlossen wie einen eigenen Sohn.
Wenn man Hermi nicht verunsicherte, konnte er die Melkmaschine bedienen, denn er hatte es so häufig gesehen, dass er jeden Handgriff kannte. Doch wenn ihn jemand gefragt hätte, wie es funktionierte, wäre er – ähnlich wie mit den Kühen – sofort ins Schleudern geraten und hätte den Knopf für die Pumpe mit dem für die Kühlung verwechselt. Knöpfe waren ein Risiko, ebenso wie Namen. Hermi konnte sich auch niemals merken, welche Kühe gerade Medikamente bekamen und daher nicht in den Melkstand durften. Er verwechselte auch manchmal die Wochentage und parkte dann zur Unzeit den Trecker vor der Tür zur Kühlkammer, sodass der Milchwagenfahrer die Tür nicht öffnen konnte.
Wenn ein solches Missgeschick passierte, dann ärgerte Rikus sich zwar, war aber nicht wirklich böse auf Hermi. Er sah sich vielmehr selbst in der Pflicht, die nötigen Voraussetzungen zu schaffen, damit Hermi seine Aufgaben gut erledigen konnte.
Da Hermi praktisch Analphabet war, konnte Rikus ihm nicht einfach Zettel schreiben, aber Zahlen waren für ihn einfacher zu erkennen, das hatte Rikus im Laufe der Zeit festgestellt. Also klebte an der Eingangstür zum Melkstand bald eine gelbe Liste, auf der die Nummern der Kühe standen, die Hermi nicht hereinlassen durfte, sondern zum alten Gatter führen musste, wo die Milch in zwei große Flaschen gepumpt wurde. Hermi prüfte bei jeder Kuh die Nummer auf der Ohrmarke, was sehr lange dauerte, viel länger, als wenn Rikus es selbst getan hätte. Aber zumindest das Kontrollieren der Nummern vergaß Hermi nie. Sobald er mit der Herde vor dem Stall ankam und den gelben Zettel sah, begann er, die Zahlen zu vergleichen.
Für verschiedene Orte wie die Tür zur Kühlkammer hatte Rikus rote Zettel, die er immer dann anbrachte, wenn Hermi hier etwas nicht tun durfte, wie zum Beispiel den Trecker parken. Am Anfang war der Milchwagenfahrer etwas verwirrt gewesen, weil er dachte, es handele sich um eine Warntafel für ihn, doch dieses Missverständnis konnte schnell ausgeräumt werden. Auch Hermi wusste manchmal nicht so genau, warum irgendwo ein Schild hing. Die rote Karte bedeutete für ihn einfach: "Bleib hier weg!", und daran hielt er sich. Denn wenn er auch nicht besonders schlau war, so hatte er doch ein feines Gespür für das Wohlwollen, das Rikus ihm entgegenbrachte, und war dankbar für dessen Nachsicht. Wenn er einen Fehler gemacht hatte, überlegte er sich, wie er es wieder gutmachen könne, und kam immer auf die gleiche Idee. Er würde heute besonders hart und lange arbeiten, damit sein Freund Rikus stolz auf ihn wäre. Und das tat er dann auch und blieb so lange, bis der ihn mit einem freundschaftlichen Klaps auf die Schulter nach Hause schickte. Für Rikus hätte Hermi alles getan.
Außer Hermi war nur noch Gerd Ostmann gelegentlich auf dem Hof. Er kam immer zu den Stoßzeiten, zum Silofahren und Heumachen und manchmal brachte er für Rikus Kälber zu einer Auktion, doch das war selten.
So kam es, dass Rikus zuerst mit Hermi sprach, nachdem der Krankenwagen ihn im Klinikum eingeliefert hatte, und der versprach, am Nachmittag pünktlich zum Melken auf dem Polder zu sein und auch am nächsten Morgen. Die Nummernliste hing noch an der Wand und Kraftfutter war noch genug da, sodass Hermi auch das Füttern übernehmen konnte. Einen Tag würde er es schaffen.
Und am darauffolgenden Tag rief Rikus bei Gerd Ostmann an, denn die Ärzte konnten zwar nicht viel für ihn tun, wollten ihn aber wegen der starken Schmerzen einige Zeit auf der Station behalten. Nachdem so alles geregelt war – wie schnell man doch zu ersetzen ist, wenn es wirklich darauf ankommt , dachte Rikus bei sich – ergab er sich dem Krankenhausalltag.
Ein Anruf an die Familie erging von seinem Krankenhauszimmer erst drei Tage später, und das auch nur, weil der 26. August zufällig Karls Geburtstag war, und Rikus es selbst in den Jahren, in denen sie sich nicht so wohlgesonnen waren, niemals versäumt hatte, seinem Bruder zum Geburtstag zu gratulieren.
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