Mühsam kam er aus dem Sitzen in eine stehende Position, wobei der Rücken rund blieb und die Arme weiterhin in Richtung der Schuhspitzen baumelten, er vermochte sich nicht in eine andere Position zu bringen. Mit kleinen Trippelschritten schaffte er es bis zum Telefon im Arbeitszimmer und rief vor Schmerz zitternd einen Krankenwagen.
Hinrikus Boekhoff, von Nachbarn und Verwandten nur Rikus genannt – Freunde oder andere Bekannte gab es kaum – hatte sein ganzes Leben auf dem Polder verbracht. Sein Hof war der letzte auf dem Josefspolder, in einer Gegend, die so abseits und einsam war, dass es ein Notarzt niemals innerhalb der vorgeschriebenen neun Minuten schaffen würde, ihn zu erreichen. Im Norden und Westen wurde sein Land – fette grüne Wiesen, auf denen seine 100 Kühe grasten – nur noch vom Deich begrenzt, hinter dem der Dollart lag. Nach Süden und Osten hin schlossen sich der Landschafts- und der Heinitzpolder an den Josefspolder an, kilometerweite grüne Einsamkeit, in der nur eine Handvoll Bauern lebte.
Auf dem fruchtbaren Schwemmland der im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert eingedeichten Polder wurde vor allem Getreide angebaut, doch Rikus‘ Vorfahren waren aus Pogum gekommen, weiter östlich am Emsbogen gelegen, und hatten von dort ihre Vorliebe für die Milchwirtschaft mitgebracht. Das Leben mit dem Vieh war übers Jahr gesehen zwar anstrengender als der Getreideanbau und brachte nicht die gleichen Reichtümer, aber es folgte einem stetigeren Rhythmus, den Gezeiten gleich, und über Jahrzehnte hinweg hatte es den Boekhoffs ebenfalls ein gutes Auskommen gesichert, so zuverlässig, dass auch sie sich zu den Fürsten der Region zählen konnten. Doch das nützte Rikus jetzt wenig.
Beim letzten Mal hatte er seinen Hausarzt angerufen, dessen Sprechstundenhilfe ihm die freundliche Mitteilung machte, er könne um 11.20 Uhr zu einem Termin in der Praxis erscheinen. Daraufhin hatte er versucht, seinen Bruder Karl zu erreichen, der aber nicht zu Hause war. Seine Schwägerin versuchte, ihn auf den Nachmittag zu vertrösten, doch auf sein drängendes Bitten hin hatte sie sich ins Auto gesetzt und ihn dann direkt ins Krankenhaus nach Leer gefahren, der Notfall war zu offensichtlich gewesen.
Diese Schmach des Bettelns würde er sich dieses Mal ersparen. Er wollte nichts Böses über seine Schwägerin denken, sie war immer freundlich und hilfsbereit, aber so richtig warm werden konnte er mit ihr nicht. Nicht, dass er überhaupt in seinem Leben mit einer Frau richtig warm geworden wäre, aber so nannte man das wohl. Sophie schien aus Luft gemacht, statt aus warmem Fleisch und Blut. Und dann war sie auch noch Schriftstellerin, ein Beruf, der für Rikus so wenig begreiflich war wie der Aufbau einer Mondlandefähre. Früher hatte er sie einfach verhuscht genannt, aber das passte als Beschreibung nicht mehr zu einer Frau, die eine große Familie ernährte. Sie hatte es Karl sogar ermöglicht, seinen Beruf aufzugeben und sich ganz seinen Hobbys und den Kindern zu widmen. Und damit war Rikus in Gedanken beim schmerzlichsten Thema seines Lebens angelangt.
Er hatte keine Kinder, niemanden, der den Hof übernehmen konnte, auch niemanden, der ihn jetzt hätte ins Krankenhaus fahren können. Auf eine Frau hatte er gelernt zu verzichten, aber die Gewissheit, dass er ohne Nachfolger bleiben würde, bedrückte ihn schon seit vielen Jahren.
Seine Neffen Klaus und Heddo waren als Kinder oft bei ihm auf dem Hof gewesen. Mit dem Fahrrad waren sie die sieben Kilometer von ihrem Elternhaus am Charlottenpolder zu ihm herausgefahren, hatten ihm beim Kühe Treiben geholfen, später beim Güllen und Mähen. Das hatte so lange gedauert, bis die Mädchen interessanter wurden als die Trecker, und mit fünfzehn war endgültig Schluss gewesen. Und dieses Spiel hatte sich bei ihrem kleinen Bruder wiederholt. Klaus und Heddo hatten Beene schon einige Male mitgebracht und ihm dabei ganz nebenbei das Fahrradfahren über lange Strecken antrainiert, so wie es nur große Brüder können – ohne Mitleid mit seinen kurzen Beinen. Da war Beene erst fünf Jahre alt gewesen, und mit sechs kam er dann schon oft allein, trottete stundenlang hinter ihm her, besah sich alles genau und stellte selten, dann aber wichtige Fragen. Mit zehn war er eine gute Hilfe gewesen, mit vierzehn besser als mancher Hofhelfer. Aber Bauernjungen hatten es auch schwer. Wer in seiner Freizeit zu viel auf dem Trecker saß, der wurde in der Schule schnell ausgegrenzt. Er selbst war deswegen in der Volksschule immer mit den Söhnen der Feenders vom Nachbarhof und den Saathoffs aus Boen zusammen gewesen, und sogar Karl hatte sich erst während der Ausbildung einen anderen Freundeskreis zugelegt.
Soweit Rikus es wusste, war Beenes bester Freund noch immer Hauke Seitz, dessen Eltern in Weener eine Lackiererei hatten. Und Hauke hatte Beene auch auf andere Freizeitideen gebracht, Rollerfahren und Herumhängen hinter dem Supermarkt an der Hauptstraße, Rauchen und Biertrinken. Wirklich schade, er mochte den Jungen, doch in den letzten Jahren war er kaum noch vorbeigekommen.
Und jetzt studierte er Sozialwissenschaften, worunter sich Rikus ähnlich wenig vorstellen konnte wie unter Sophies Schriftstellerei. Doch sicherlich war es eine Tätigkeit, bei der man nicht vor die Tür trat, um den wunderbaren Duft frisch gemähten Grases einzuatmen, den der Junge früher so geliebt hatte. Aber er war ja nur der Onkel, er mischte sich da nicht ein.
"Er wird schon wissen, was er will", hatte Karl ihm geantwortet, als Rikus nach Beenes Zukunftsplänen gefragt hatte.
Sein Bruder hatte gut reden. Bei seinem Überschuss an Nachwuchs konnte er es sich leisten, den einen oder anderen aus den Augen zu verlieren. An den Hof und an ihn dachte er dabei aber anscheinend nie. Rikus schnaubte. Er hatte sich schwer auf dem Schreibtisch abgestützt, auf dem das Telefon im Arbeitszimmer stand, und langsam begannen seine Hände zu kribbeln. Als er jedoch versuchte, seine Position ein wenig zu ändern, durchzuckte ihn erneut der Schmerz und er bereute, es versucht zu haben.
Außer den Jungen hatte sein Bruder noch zwei Töchter. Elsa, die Älteste, war Krankenschwester geworden. Vielleicht hätte er sich mehr für das Mädchen interessieren sollen, dann hätte sie jetzt vielleicht ein Auge auf ihn gehabt, doch seit dem Tod der Großeltern war sie nicht mehr auf dem Hof gewesen. Insa, die Jüngere, musste jetzt ungefähr siebenundzwanzig sein und studierte noch immer Kunst in Groningen. Was man wohl tat, wenn man Kunst studierte, fragte Rikus sich nicht zum ersten Mal. Ob man sich Bilder in Museen anschaute und versuchte, die Maler zu verstehen? Das Wort studieren musste wohl einen tieferen Sinn haben, als das Malen zu üben. Das wäre doch eher ein Lehrberuf.
Es war nicht so, das Rikus für künstlerische Tätigkeit unempfänglich war. Im Gegenteil, er liebte schöne Bilder, besonders die Seestücke seiner Eltern, die in der Upkamer hingen. Gleichzeitig fürchtete er sich geradezu vor den seltsam verkrüppelten Gestalten eines Maxim Kantor oder den schmerzverzehrten Gesichtern Edward Munchs. Er hatte diese nie in Ausstellungen gesehen, aber Karl hatte einige Kataloge zur Lektüre neben der Toilette liegen, und die wenigen Motive, die er beim Durchblättern gesehen hatte, verfolgten in noch nach Monaten. Rikus verlangte es nicht nach den dunklen Seiten des Lebens, auch die Fernsehnachrichten stellte er oft ab, wenn zu viele Kriegsberichte gesendet wurden.
Er fühlte außerdem eine gewisse Ehrfurcht vor den großformatigen Gemälden seines Bruders, die mit kühnen Pinselstrichen und kräftigen Farben weite Landschaften zeigten, manchmal auch Tiere oder Details aus der Natur. Besonders das in Grün- und Grautönen gehaltene Bild der alten Pappelallee, durch deren Spitzen der rot geklinkerte Hof, sein Hof, schimmerte, hatte es ihm angetan. Es hing in Karls Diele, ganz allein an einer großen Wand.
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