»Wenn du das mit Absicht tust, landest du beim Direktor«, warnte er mich mit gepresster Stimme.
»Mit Absicht? Was denn?«, fragte ich in meinem mangelhaften Türkisch.
Der Lehrer winkte hektisch ab. »Egal, jemand anders soll vorlesen. Du da!« Die Klasse lachte noch immer und mir traten Tränen in die Augen. Ich senkte den Kopf, damit niemand mich so sah, diese Genugtuung würde ich ganz sicher niemandem verschaffen! Aber Osman stupste mich an und reichte mir einen Zettel. Canim sikiliyor heißt: Mir ist langweilig . Canim sikiliyor dagegen heißt, dass deine Seele Sex hat, aber in einer sehr, sehr vulgären Form .
Ich schluckte und war im ersten Augenblick versucht, hysterisch loszulachen. Kein Wunder, dass alle über mich lachten. Wie schrecklich peinlich! Und kein Wunder, dass niemand wirklich mit mir sprach, sie hielten mich für einen Dummkopf! Ich schluckte erneut, um den Kloß aus Wut und Enttäuschung, der mir im Hals steckte, loszuwerden. Diese verdammte Sprache, diese verdammte Schule! Wie sollte ich je anständiges Türkisch lernen und Freunde finden? Während jemand seine Hausarbeit vorlas, schaute ich mich verstohlen um. Bisher kannte ich nur wenige meiner Klassenkameraden, die hochnäsige Ebru, ja, und deren Nebensitzerin Hanife, die beiden lästerten ganz öffentlich über mich, auch und vor allem, wenn ich in Hörweite war.
Dann war da noch Osman.
Er war der Einzige, der sich mir gegenüber freundlich verhielt. Aber da war etwas in seinem Blick, das mir nicht ganz geheuer war. »Du wirst paranoid«, schalt ich mich und musste dann widerwillig grinsen, weil ich seit Neuestem Selbstgespräche führte.
Alle anderen lachten entweder über mich oder beachteten mich gar nicht. Osman, der meinen Blick bemerkt haben musste, wandte den Kopf und lächelte mir tröstend zu. Ich erwiderte sein Lächeln zurückhaltend und tat, als konzentriere ich mich wieder auf die Hausaufgabe.
Das größte Rätsel aber gab mir Noyan auf. Aus seinem Verhalten wurde ich einfach nicht schlau. Zuerst hatte er mich gerettet und dann hatte er mich einfach links liegen lassen, wenn man von seinen spöttischen Kommentaren einmal absah. Klar, er grüßte mich, aber zögerlich und immer darauf bedacht, eine gewisse Distanz zu wahren. Tat er das, weil er älter als ich war? Oder hatte er etwa eine Freundin? Bei diesem Gedanken durchfuhr mich ein Stich. Na und! Soll er doch!, dachte ich trotzig.
Endlich läutete es zur großen Pause. Lustlos reihte ich mich in die Warteschlange in der Schulkantine ein, nahm mir ein Tablett und ließ mir Gemüse, Reis, etwas zu trinken und einen Apfel geben. Unentschlossen stand ich mit dem gefüllten Tablett in der Hand im Speisesaal. Die Kantine war voll, aber glücklicherweise erspähte ich weiter hinten einen freien Tisch, an dem ich mich erleichtert niederließ.
»Na, so allein?«
Überrascht blickte ich auf und sah Noyan. Ärgerlicherweise war meine Wut auf ihn mit einem Mal verflogen. Warum musste er nur so verdammt gut aussehen?
»Darf ich mich zu dir setzen?«
Ich nickte resigniert und widmete mich meinem Essen.
»Und, wie läuft es so?«
»Könnte besser sein«, erwiderte ich einsilbig und stocherte auf dem Tablett herum.
»Kommst mit dem Unterricht nicht klar oder liegt es an den Leuten in deiner Klasse?«
»Beides, mehr oder weniger.«
Eine Weile aßen wir schweigend, dann sagte Noyan: »Sehr gesprächig bist du ja heute nicht.«
Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Ebru plötzlich zwitscherte: »Da dies der einzig freie Tisch ist, setzen wir uns wohl hierher.« Ich drehte mich um und registrierte mit leiser Verzweiflung, dass Ebru nicht mit mir, sondern mit ihrem Anhängsel Hanife gesprochen hatte. Hanife war der größte Nickesel, dem ich je begegnet war. Was vermutlich auch der einzige Grund war, dass Ebru und Hanife so dicke Freundinnen waren. Ebru bestimmte, Hanife nickte. Nicht gerade die Art von Freundschaft, die ich mir wünschte.
»Oh, hallo, Noyan!« Ebru tat, als hätte sie ihn eben erst bemerkt, und klimperte heftig mit den Wimpern.
»Hallo«, erwiderte er wortkarg.
»Wir haben uns ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, wie?«
»Hm, kann schon sein.«
Ebru lachte gekünstelt und warf ihr Haar in den Nacken. »Vielleicht gehen wir ja demnächst noch mal aus?«
NOCH MAL? Sollte das etwa heißen, dass er mit einer Tussi wie dieser Ebru freiwillig etwas unternahm? Pfui, ich mochte gar nicht daran denken. Ebru war hohl, das konnte ein Blinder mit einem Krückstock auf vierzig Kilometer Entfernung sehen, ein Puppengesicht ohne die geringste Menge Hirnmasse. Zudem war sie gehässig und hinterlistig, soweit ich das beurteilen konnte. Noyan litt eindeutig an einer fortgeschrittenen Geschmacksverirrung!
Er bemerkte meinen Blick und errötete. »Mal sehen. Seid ihr nicht in derselben Klasse?«, lenkte er vom Thema ab.
»Ließ sich leider nicht vermeiden«, entfuhr es mir. Ebru funkelte mich böse an. »Du sagst es, Almanci . Wenn es nach mir ginge, dann wärst du nicht einmal auf dieser Schule. Wir Türken, auf die du so von oben herabschaust, müssen uns einer sehr schwierigen Prüfung unterziehen, bevor wir auf das Lyzeum kommen. Und nur die Besten von uns dürfen auf das deutsche Gymnasium. Die, die also hier sind, haben bewiesen, dass sie intelligent sind. Wohingegen solcher Abschaum wie DU ...«, Ebru war jetzt aufgestanden und pikste mir mit dem Zeigefinger auf die Brust, »... einfach so hereinspaziert kommt und unser Niveau senkt. Lernt ihr denn GAR NIGHTS in Deutschland?«
Mir war der Appetit gründlich vergangen. Ich schob meinen Stuhl zurück und erhob mich langsam. »WIR haben gelernt, dass man Ausländern gegenüber aufgeschlossen sein sollte. WIR wissen, was echte Freundschaft ist, was man von euch ja nicht gerade behaupten kann. Und WIR laufen Jungen nicht wie läufige Hündinnen hinterher.« Ich wandte mich wütend um und stieß ohne Vorwarnung gegen Osmans Brust.
»Oh, Verzeihung!«, rief er.
»Schon gut«, murmelte ich.
»Schön, dass ich dich erwische. Hast du nächste Woche Samstag schon etwas vor? Ich dachte, wenn du Lust hast, gehen wir vielleicht ins Kino oder so ...« Sein Blick glitt spekulierend an mir herab und für den Bruchteil einer Sekunde fühlte ich mich an Saskias Schwarm Simon erinnert, der alle Mädchen mit den Augen auszog.
Ich warf einen langen Blick auf Noyans gesenkten Lockenkopf hinunter, der sich scheinbar auf sein Essen konzentrierte. Warum sollte ich nicht mit Osman ausgehen? Immerhin war er der Einzige, der mich behandelte, als wäre ich ein Mensch. Und dass er mich immer so komisch anschaute, bildete ich mir ganz sicher bloß ein.
»Ja, das wäre schön«, stimmte ich zu.
Er lächelte begeistert. »Toll, dann hole ich dich gegen vier Uhr ab, okay?«
Ich nickte.
»Jetzt bildet sie sich sicher etwas ein, nur, weil Osman SIE gefragt hat und nicht dich!«, wisperte Hanife hämisch.
Überrascht wandte ich mich um.
»Halt die Klappe, Hanife!«, befahl Ebru wütend.
»Weißt du, Ebru, es gibt da ein deutsches Sprichwort: Man kann nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen«, trällerte ich salbungsvoll.
»Als wenn dich das interessiert, Ebru, du findest doch Noyan ohnehin viel sü...«, fiel Hanife ungefragt ins Gespräch ein.
»Halt endlich deine verdammte Klappe, du Idiotin!«, fauchte Ebru und schien ernsthaft versucht, ihrer Freundin eine Ohrfeige zu verpassen.
Noyan räusperte sich leise in die peinliche Stille hinein, die jetzt folgte. »Ich muss los. Der Unterricht fängt gleich an.« Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er an mir vorbei. Ich bemerkte überrascht, dass er sein Essen kaum angerührt hatte, was mir merkwürdigerweise ein Gefühl der Genugtuung verlieh.
Ich war einsam. Ich vermisste meine Mädels, ich vermisste es, mit ihnen zu lachen und etwas gemeinsam mit ihnen zu unternehmen, aber am meisten vermisste ich es, mit ihnen zu quatschen. Heute wollten wir ein Webmeeting veranstalten. Saskia hatte Leo, Aggie und Ira zu sich nach Hause beordert, alle würden bei ihr übernachten und ich sollte virtuell an der Pyjamaparty teilnehmen.
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