»Heute Nachmittag. Es waren so viele. Weißt du noch? Und dann hast du mich versteckt. Aber ich konnte sie immer noch hören. Überall. Die Frauen auch. Es war genauso wie auf der Farm, wo mein Vater seinen Laden hatte. Sie haben ihn umgebracht. Mit einer Axt, die sie im Laden gefunden haben. Er hatte gerade das Tor zum Viehkraal repariert. Meine Brüder halfen ihm dabei. Gerhardt und Rolf. Aber diese Ovambos haben sie nicht einfach umgebracht, vorher ... du weißt schon. Und Mutter und Gertrud und ich, wir haben einfach daneben gestanden. Aber uns haben sie nicht angerührt. Sie haben uns sogar was zu essen dagelassen, als sie weiterzogen. Am nächsten Tag gingen wir zur Missionsstation, die sechseinhalb Stunden entfernt liegt. Zuerst haben wir die Leichen ins Haus geschleift. Um sie nicht den Geiern und solchem Viehzeug zu überlassen, du weißt schon. Mutter wollte nicht fortgehen, da haben wir sie gezwungen. Und dann unterwegs ist sie gestürzt und hat sich das Bein gebrochen. Oh Jesus. Wir gingen bis zur Mission weiter und holten die Leute von dort, aber die Hyänen waren schon vor uns da gewesen. Und sie war ganz von Geiern bedeckt. Und Fliegen, überall Fliegen. Auf Vater und Gerhardt und Rolf, als wir zurückkamen. Der Missionar hat versucht, sie vor unseren Blicken zu verbergen, aber wir haben sie gesehen. Und gerochen. Später kamen die Soldaten, um uns mitzunehmen. Die gleichen wie heute Nachmittag. Ich meine, nicht dieselben Männer, aber die gleichen Uniformen. Die deutsche Armee. Wir waren so was von glücklich, als sie kamen. Gertrud roch auch, als sie in der Wüste starb. Einen ganzen Tag lang versuchte ich, die Geier abzuhalten. Und die Schakale. Aber vor den Hyänen hatte ich Angst. Also musste ich sie dalassen, du weißt schon. Und die Fliegen hätte ich ja ohnehin nicht abhalten können. Überall auf den Körpern. Auf ihrem auch. Ich weiß gar nicht, wo die hergekommen sind. Sie waren einfach plötzlich da. Aber als die Soldaten kamen, wurde es besser. Als Gertrud starb, ist niemand gekommen. Nur als meine Eltern ermordet wurden. Nach zwei Tagen glaube ich. Oder drei. Und die Soldaten waren wirklich nett zu uns. Sie haben uns zu essen und zu trinken gegeben und alles. Nur wenn sie Schwarze entdeckt haben in der Steppe, waren sie nicht so nett. Auf dem Weg nach Windhuk.« Sie zittert. »Weißt du, was sie mit denen gemacht haben?«
Hanna drückt das Gesicht des Mädchens gegen ihre Brust, um den Redefluss zu unterbrechen. Aber Katja befreit sich aus der festen Umarmung.
»Deshalb hatte ich keine Angst, als sie heute Nachmittag gekommen sind. Jedenfalls zu Anfang nicht. Erst als sie. Als er.« Sie versucht sich umzudrehen, um noch einen Blick auf den schweren halbnackten Körper werfen zu können, der zusammengesunken auf dem Boden liegt, aber Hanna dreht ihren Kopf mit Gewalt weg.
Jetzt ist es genug , sagt ihr Gesichtsausdruck.
»Was wollen wir jetzt mit ihm machen?«, fragt das Mädchen wieder.
Hanna sieht sie an, starrt ihr erbarmungslos in die Augen. Willst du mir helfen ?
Sie knien sich hin und versuchen, dem toten Mann wieder seine Uniformhose anzuziehen, wobei sie den Kopf abwenden, was die Sache noch schwieriger macht. Wieder muss das Mädchen kichern.
Hanna bringt einen ärgerlichen, tadelnden Ton hervor.
»Wenn sie auf der Steppe Schwarze fanden, fingen sie sie ein und schlugen sie und stachen ihnen die Augen aus und banden sie auf Ameisenhügeln fest, und andere hängten sie an Dornbäumen auf, weißt du, an den großen, den Kameldornakazien, und andere nahmen sie und hackten ihnen alles ab, die Ohren, die Nase, die Hände, die Füße, die Dinger, alles. Und dann stopften sie ihnen ihre Dinger in den Mund und standen drumherum und lachten und rauchten und tranken Schnaps. Aber zu uns waren sie wirklich so freundlich, als wären sie unsere Väter oder Brüder, nur dass ein paar von ihnen noch ganz jung waren.«
Hanna packt sie an den Schultern und schüttelt sie. Hör jetzt auf damit. Halt um Gottes willen endlich die Klappe!
»Du glaubst mir nicht. Ich sag dir doch, ich hab alles gesehen.«
Du meinst, ich würde dir nicht glauben. Ja denkst du denn, ich hätte das alles nicht selbst gesehen und miterlebt?
»Und als sie dann heute Nachmittag kamen, war ich ganz glücklich über den Anblick der Uniformen. Der hier auch, er sah aus, als wäre er der Chef. Als er die Arme um mich legte und mich küsste, war es wie mein Vater, und ich musste fast weinen, so glücklich war ich, so viel ist mir plötzlich wieder ins Gedächtnis gekommen, weißt du, von ganz früher, als wir alle, als Gerhardt und Rolf und Gertrud und ich, aber Gertrud ist ja gestorben, stimmt. Und dann ganz plötzlich war er überhaupt nicht mehr wie mein Vater.«
Dies ist, soweit Hanna sich erinnert, was am Nachmittag geschah. Die Truppe trifft kurz nach Mittag von Süden her ein. Eine Gruppe Offiziere zu Pferde, gefolgt von einer Horde ausgezehrter Fußsoldaten, vielleicht fünfzig oder sechzig oder achtzig. Dann eine jämmerliche Reihe nackter Sträflinge, die Hände auf dem Rücken gefesselt, aufgefädelt wie die Perlen an einem Rosenkranz mittels eines Seils, das von einem Hals zum nächsten läuft. Namas, so wie sie aussehen, kurzgewachsene, dünne Menschen von gelblicher Farbe und mit verhärmten, zerfurchten Gesichtern. Die meisten sind Männer, aber es sind auch Frauen darunter und sogar mehrere Kinder. Die Nachhut besteht aus einem weiteren Trupp Soldaten mit Gewehren und Peitschen und Sjamboks.
Es muss sich um Gefolgsleute von Hendrik Witbooi handeln, die aus reiner Gewohnheit oder Sturheit selbst noch fünf Monate nach dem Tod ihres Hauptmanns weiterkämpfen. In den frühen Tagen dieses Krieges, der in dem riesigen Land hier mittlerweile seit Jahren immer wieder einmal aufflammt, hat es eine Art von Ehrenkodex gegeben, der die Beziehungen zwischen der deutschen Besatzungsarmee und den einheimischen Leuten bestimmte. Es ist allgemein bekannt, dass Witbooi einmal, nachdem er wochenlang auf einem Berg belagert worden war, dem kommandierenden deutschen Offizier unten in der Ebene einen Brief schickte (»Sehr verehrter kaiserlich deutscher Herr Franz«), in dem er seine Bedürfnisse auflistete: Essen, Wasser, zwei Kisten Martini Henry Munition, »wie es sich gehört zwischen großen, würdigen und zivilisierten Nationen«. Aber schon bald war von Ehre nicht mehr viel zu sehen, und im Laufe der Zeit, vor allem nachdem Generalleutnant von Trotha das Kommando übernommen hatte, wurde der Krieg ebenso bestialisch wie jeder andere und griff im Rahmen der Tabula-rasa-Strategie des Generals auf große Teile der Kolonie über. Zu manchen Zeiten war er kaum mehr als eine Anhäufung von kleinen Scharmützeln, von isolierten Guerillaangriffen auf Farmen oder Außenposten oder Armeecamps, aber vor zwei Jahren, 1904, weitete er sich plötzlich zum totalen Flächenbrand. Die Hereros, die von der deutschen Enteignung und einer Viehseuche, die ihre Herden dahinraffte, schließlich aus ihren angestammten Gebieten vertrieben worden waren und nichts mehr zu verlieren hatten, trugen Welle um Welle verzweifelter Angriffe vor, um die Deutschen – Schutztruppen, Siedler, Händler, jedermann – in die weißschäumenden Wellen des Atlantik zurückzutreiben. Diesmal sprangen die meisten anderen eingeborenen Völker ihnen bei, vom Kunene im Norden bis hinunter zum Oranje. Und nachdem die Gewalt sich im Norden totgelaufen hatte, flammte sie im Süden wieder auf. Und jetzt führt, auch nach der Abberufung von Trothas, sein militärischer Nachfolger, der Oberbefehlshaber Dame, seinen Feldzug gegen die Nama weiter. Und von daher kommt diese Truppe hier.
Irgendjemand, der aus einem der hochgelegenen hinteren Zimmer des Frauensteins blickt, schlägt Alarm. Binnen weniger Augenblicke drängen sich an jedem Fenster Frauen wie Fledermäuse an der Decke einer Höhle, während die Leitung des Hauses, allen voran die winzige, aber ehrfurchtgebietende Frau Knesebeck, auf dem Hinterhof zwischen der Küche und den Scheunen und Ställen eine schützende Phalanx bildet. Das ganze Gemäuer bebt vor Aufregung. Fremde! Besucher! Und so viele. Das allgemeine Gefühl, einen großen Moment zu erleben, etwas nie Dagewesenes. Zugleich aber auch ein böses Vorgefühl, Angst, Furcht. All diese Soldaten – die können doch nichts Gutes im Schilde führen. Ähnliche Besuche in der Vergangenheit haben sich auf kleine Patrouillen von jeweils zwei, drei oder höchstens einem halben Dutzend Soldaten beschränkt, und Gott weiß, was die schon für ein Chaos hinterließen. Was heute bevorsteht, kann sich niemand vorstellen. Ein solcher Einbruch von jenseits der Wüste ist etwas Schwererwiegendes als ein geschichtlicher Moment, es ist der Stoff, aus dem man Legenden und Mythen macht. So nah war der Krieg noch nie am Frauenstein, mit einem Mal ist er kein Gerede mehr und kein Gerücht, keine Ahnung und keine Möglichkeit, sondern etwas überwältigend Wirkliches. Er ist hier, er ist jetzt. Alle zittern sie vor banger Erwartung.
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