Aus einiger Distanz überwacht sie, nach vorn gebeugt, um in die Flammen blicken zu können, die brennenden Kleider noch ein paar weitere Minuten, dann eilt sie, sehr leichtfüßig jetzt, wie ein Schatten rund ums Haus und drückt die schwere Eingangstür auf. Drinnen in der riesigen Eingangshalle horcht sie gespannt in die Dunkelheit und stiehlt sich dann nackt hinauf in Katjas Zimmer. Das Mädchen schläft mittlerweile. Seufzend, die Brust von Schluchzern gehoben, aber von schierer Erschöpfung in den Schlaf getrieben. So soll es sein. Mit einem zufriedenen, vielleicht auch erleichterten Nicken kehrt Hanna um und geht wieder nach unten. In der Küche füllt sie eine große Wanne mit Wasser aus dem Bottich neben dem Ofen, der sie wie mit den Augen einer bösartigen Katze in einem Räuberhaus anleuchtet. Und obwohl das Wasser einen Kälteschock durch all ihre Glieder jagt, fängt sie an, sich zu waschen und zu schrubben und schrubben, von Kopf bis Fuß, in einer kontrollierten Raserei, die so gar nicht zu dem äußeren Ausdruck von Gemütsruhe passen will, den sie ausstrahlt. Dann trocknet sie sich mit sauberen Küchentüchern ab, die sie aus der untersten Schublade des großen Wäscheschranks gezogen hat. Noch immer nackt, aber dennoch fast unsichtbar, außer in dem Moment, wo sie am Fenster des Treppenabsatzes vorüberkommt und blass aufschimmert, kehrt sie auf ihr Zimmer zurück. Jede Bewegung ihrer plumpen langen Glieder bleibt geräuschlos.
Es ist der Moment, in dem sie an dem hohen fleckigen Spiegel auf dem Treppenabsatz des zweiten Stocks vorbeikommt, als ihr Blick auf sie selbst fällt. Sie holt eine Kerze aus ihrem Zimmer und kehrt dann wieder zurück, um zu schauen, zum ersten Mal in drei Jahren, sieben Monaten und dreizehn Tagen. Ihr Gesicht anzuschauen. Und dann des Rest ihres Körpers von oben nach unten. Alles, was sie gesehen haben und was auch sie selbst jetzt anzusehen wagen muss. Was geschehen ist, hat sie endlich zum Schauen-Können befreit.
Dies ist, was vor dem Begräbnis geschah: Es ist schon spätabends, als sie den Schrei aus Katjas Zimmer hört, das gegenüber von ihrem eigenen liegt. Sie setzt sich im Bett auf. Niemand wird nachsehen kommen. Viele der Insassinnen schreien oder weinen nachts. Und Katja hat, wie jedermann weiß, Albträume, seit sie auf blutenden Füßen aus der Wüste zurückgehumpelt kam. Aber dieser Schrei jetzt kommt nicht aus einem Traum, das erkennt Hanna auf der Stelle. Sie kennt das Mädchen und sie weiß, was Albträume sind. Sie weiß über Schreie Bescheid. Dazu braucht man keine Zunge.
Nur in ihr Nachthemd gekleidet und ohne sich die Mühe zu machen, wie sonst ihr Gesicht mit der großen Mütze zu verhüllen, bewegt sich Hanna barfuß durchs Zimmer, um die Tür zu öffnen. Sie zieht ein Bein ein wenig hinter sich her, aber ist seit langem daran gewöhnt und bewegt sich dennoch rasch. Angespannt, die Stirn gegen den Türrahmen gepresst, wartet sie. Dann ertönt ein zweiter Schrei und danach etwas, was ein Schlag sein kann oder ein fallender Körper, daraufhin weitere gedämpfte Geräusche, dann die laute Stimme eines zornigen Mannes. Sie erreicht Katjas Tür und drückt dagegen. Sie ist nicht verriegelt.
Als sie über die Türschwelle stürmt, hält sie einen schweren Leuchter aus Messing in der Hand. Wie er da hineingekommen ist, weiß sie nicht. Dergleichen geschieht. Schon einmal, kurz nach ihrer Ankunft am Frauenstein, spazierte sie, weit entfernt vom Haus, durch die Steppe und setzte den Fuß direkt neben eine geblähte, hübsch braun und gelb gemusterte Puffotter. Als die Schlange vorschoss, sprang sie hoch, um dem Biss zu entgehen, und als sie wieder landete, hatte sie einen Stein in der Hand. Erst nachdem sie die Puffotter getötet hatte, fiel ihr ein, sich über den Stein zu wundern. Die Erde war hier nackt und sandig und es lagen keine Steine herum. Aber sie machte sich darüber nicht lange Gedanken. Solche Dinge geschehen. Und diesmal hat sie den Leuchter. Der Mann steht neben dem schmalen Bett mit seiner grau gestreiften Decke. Es ist der Offizier von heute Nachmittag. Sie erkennt die Uniform wieder, auch wenn er nur die Khaki-Jacke mit den schmucken goldenen Litzen trägt. Der Tropenhelm liegt auf dem Bett. Die Hose zusammengeknüllt auf dem Boden. Der Hintern, umgeben von drahtigem schwarzem Haar, wirkt sehr weiß. Das Mädchen liegt nackt und verkrümmt wie ein Fötus zu seinen Füßen und wimmert. Sein rechter Arm ist hoch über den Kopf erhoben, an seiner Hand hängt wie eine Schlange ein Gürtel mit einer schweren Schnalle. Hanna hat diese Positur schon öfter gesehen. Im Waisenhaus. Im Zug.
Die Schlange schnappt zu. Das Mädchen schreit und bäumt sich auf. Ihr Gesicht zwischen dem langen zerzausten Haar ist tränenüberströmt. Die kleinen Wärzchen auf den kaum ausgebildeten Brüsten sehen aus, als starrten sie wie schreckgeweitete Augen.
Der Mann bellt wütend: »Du blutest überhaupt nicht! Warum hast du mir dann gesagt, du würdest? Du blutest überhaupt nicht! Du blutest überhaupt nicht, du verlogene kleine Schlampe!«
Ganz offenbar außer sich vor Zorn holt der Mann mit dem schweren Gürtel wieder so weit aus, dass er fast aus dem Gleichgewicht gerät. Diesmal sieht Katja den Schlag kommen und kann ihm halb ausweichen. Und sie sieht auch etwas hinter ihm. Einen Augenblick lang erstarrt sie ungläubig.
Dann ruft sie: »Hanna!«
Der Mann fährt mitten in seiner ausholenden Bewegung herum, mit dem Ergebnis, dass der schwere Leuchter anstatt auf seinen Hinterkopf auf seine Nase schlägt. Er ist kurz betäubt. Als er auf die Knie sinkt und sein Gesicht mit den Händen umschließt, bricht ihm der zweite Schlag die Knöchel. Der dritte zerschmettert den Schädel. Das Blut blendet ihn. Ein bellender Laut wandelt sich in seiner Kehle zu einem Gurgeln. Und sie schlägt, hämmert, schmettert immer weiter, als wolle sie die Gitter eines Käfigs kaputtschlagen. Aus ihrer Kehle lösen sich grunzende, knurrende Geräusche. Vielleicht sind es unterdrückte Schluchzer, vielleicht auch nicht. Sie hat sich noch nie derartige Geräusche machen hören.
Erst als sie zu erschöpft ist, das schwere Messingding hochzuheben, muss sie eine Pause einlegen. Sie schnappt nach Luft und atmet schwer, ihr Oberkörper hebt und senkt sich.
»Du musst jetzt aufhören«, bettelt Katja in einem kaum hörbaren Jammern. »Du hast ihn umgebracht.«
Hanna nickt benommen. Sie lässt sich schwer auf das Bett fallen. Das Mädchen sinkt neben ihr nieder, streckt den Arm aus, um sie zu berühren, zieht die Hand dann wieder zurück.
»Was willst du jetzt tun?«, fragt sie.
Hanna schüttelt den Kopf. Sie deutet auf den dünnen Körper des Mädchens und bewegt die Ellbogen in einer Geste, die heißen soll: Zieh was über.
Beschämt bedeckt Katja kurz ihre Brust mit den Händen, dreht sich dann um und beginnt an den Kleidungsstücken zu zupfen, die auf dem kleinen Tisch vor dem Fenster liegen. Die Fetzen ihres Nachthemds liegen auf dem Bett und auf dem Boden. Als sie die Hände hochhebt, um in den Armenkittel zu schlüpfen, den die wohlmeinenden Damen von der Kirchengemeinde gespendet haben, muss sie unerwartet kichern. Das Kichern steigert sich zu unkontrollierbarem hysterischem Gelächter, das nicht mehr aufhört, bis sie auf dem Bett zusammenbricht. Erst als Hanna die Arme ausstreckt und den Körper des Mädchens an ihren drückt, wandelt sich das Lachen zu Gewimmer.
»Er sah so komisch aus«, schluchzt sie. »In dieser schnieken Uniform. Und mit nacktem Arsch.«
Hanna bringt beruhigende tiefe Laute hervor, während sie den dünnen Leib wiegt, sie kann die Rippen des Mädchens spüren.
Langsam kommt das Schluchzen zur Ruhe. Katja fängt an zu reden. Sie plappert wirres Zeug durcheinander, ein ungedämmter Wortfluss, der nur ab und an durch die tiefen Seufzer unterbrochen wird, die ihren ganzen Körper durchschütteln.
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