1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 In diesem Moment fliegt die Tür brutal auf und ein Mann taumelt über die Schwelle von Hannas Zimmer. Es ist Oberst von Blixen.
»Ah!«, ruft er und verschafft sich am Türrahmen Halt. »Nach dir habe ich in dem ganzen verdammten Haus gesucht, du schnucklige kleine Schlampe!«
Das Mädchen kämpft sich aus wirren Traumschleiern frei. Hanna legt ihr eine Hand auf die Hüfte. Sie wirkt sehr ruhig, aber ihr Körper ist angespannt.
»Komm her«, sagt der Oberst. Das Grinsen in seinem geröteten Gesicht sieht aus wie ein Schmiss. Auf seiner Uniform und seinen Händen sind Blutflecke.
Katja schüttelt den Kopf.
»Komm her!«, donnert er.
Hanna X zieht das Mädchen noch dichter an sich.
Der Offizier ist offensichtlich sturzbetrunken und dazu jetzt noch fast schlagflüssig vor Wut. Im Versuch, sich zu nähern, stolpert er, kann sich dann an einem der Bettpfosten festhalten, bleibt einen Moment lang schwankend stehen und stürzt sich dann auf die Frauen.
Hanna X versucht, sich zwischen ihn und das Mädchen zu bringen, aber mit der Kraft seiner Wut wischt er sie einfach beiseite und sie stürzt zu Boden.
»Sie haben gehört, was Frau Knesebeck gesagt hat«, flüstert das Mädchen.
»Zur Hölle mit ihr. Zur Hölle mit Oberbefehlshaber Dame.«
Hanna kommt wieder auf die Füße und rückt sich die Kappe zurecht, mit der sie normalerweise ihr Gesicht verdeckt. Sie macht ein Geräusch, aber er dreht sich nicht einmal zu ihr um.
»Komm her«, sagt er wieder zu dem Mädchen. Beide Frauen können jetzt auch seinen Geruch wahrnehmen. Des Besoffenen, des Soldaten, der tage-, ja möglicherweise wochenlang durch die Wüste geritten ist und der jetzt den ganzen labyrinthischen Nachmittag mit Ficken und Kotzen verbracht hat.
Diesmal gehorcht Katja, als stehe sie unter einem Bann.
»So ist’s brav«, sagt von Blixen anerkennend. Er streckt mit äußerster Konzentration die Arme steif aus und legt die Hände auf ihre Brüste. Das Gesicht des Mädchens errötet, aber sie scheint zu verängstigt, sich zu rühren.
»Blut«, sagt er und spuckt aus. »All diese gottserbärmlichen Weiber bluten, es ist wie in einem gottverdammten Schlachthof. Aber du bist zu jung für so was, da bin ich sicher. Und deshalb will ich dich.«
Eine seiner Hände gleitet an ihr hinab und schließt sich um ihren Schamhügel. Er grunzt vor Befriedigung.
Dann geschehen mehrere Dinge gleichzeitig. Das Mädchen zuckt vor seinem Griff zurück, verliert an der Bettkante sein Gleichgewicht und fällt mit strampelnden Beinen auf den Rücken. »Wohl blute ich!«, schreit sie ihm zu. »Ich blute genauso wie alle anderen.«
Hanna X zieht die Kappe ab, um ihr Gesicht zu offenbaren.
Und dann ertönt die Stimme Frau Knesebecks von der Tür: »Herr Oberst.«
Oberst von Blixen reagiert, als habe ihn eine Schlange gebissen. Was es nun eigentlich letztlich ist, das ihn so schockiert – die Bemerkung des Mädchens, das Gesicht der Hanna X oder die Erscheinung Frau Knesebecks –, bleibt unklar. Tatsache ist aber, dass der Soldat sich aufrafft, den Rücken strafft und hinausmarschiert. Sie können ihn den ganzen Weg das Treppenhaus hinab hören. Dann schlägt die Vordertür zu. Von draußen kommen die Geräusche von Männern und Pferden. Sich entfernendes Hufgetrappel, das sich irgendwann verliert. Die endlose Stille der Wüste ergreift wieder Besitz vom Ort des Geschehens.
»Bring dich wieder in Ordnung«, sagt Frau von Knesebeck barsch zu dem Mädchen.
Katja steht auf und zieht sich das Kleid zurecht, das bei ihrem Fall hochgerutscht war. Hanna X zieht sich wieder ihre Kappe über. Die Vorsteherin von Frauenstein wendet sich zum Gehen und schließt die Tür mit einem resoluten, aber leisen Klicken.
Und dann, einige Stunden später, die Nacht ist bereits angebrochen und das Mädchen ist in sein eigenes Zimmer gegangen, kehrt der Oberst zurück, allein und bebend vor innerer Wut, die nicht nachlassen wird, bevor er nicht all den Dampf abgelassen hat, der sich so lange aufgestaut hat.
Der Frauenstein liegt in der Stille. Die Dunkelheit hat dem Gebäude eine merkwürdige, bittere Unschuld zurückgegeben. Es ist die traurige Unschuld eines Waisenhauses, wenn all die kleinen Geräusche des Tages verklungen sind.
Geräusche verschwinden nicht, niemals, nicht wirklich. Das weiß Hanna bereits, als sie noch ganz klein ist. Was tatsächlich passiert, wenn es sich so anhört, als würden sie verklingen, so wie das Läuten der Glocken vom Platz, vor allem nachts, ist, dass sie immer kleiner werden, um in das Versteck passen zu können, wo sie von denjenigen, die nicht zu lauschen verstehen, nicht mehr gefunden werden können. Das ist ein kleiner und runder Ort, wie eine Muschel. Das entdeckt sie eines Tages, an dem die Kinder des Hauses der Kinder Jesu von Frau Agathe zu einem Ausflug mitgenommen werden, am schmalen grauen Strand der Weser gegenüber dem Europahafen. Es ist ein grauer, kalter Tag, aber der Strom fasziniert sie. Nicht aus sich selbst heraus, sondern weil sie weiß, dass er zum Meer hinführt, das sie nie gesehen hat, außer in ihren Träumen. Und vielleicht in dem verloren gegangenen Teil ihres Lebens, bevor sie ins Waisenhaus gesteckt wurde, und aus dem nur kurze, wirre Erinnerungsblitze in ihrem Gedächtnis lagern – und einer davon zeigt das Meer, seine Geräusche, seinen Duft und die weißen, brechenden Wellen. Das Meer ist ein magischer Ort der Wunder. Es beginnt in Bremerhaven und reicht bis auf die andere Seite der Welt, dorthin, wo der Wind herkommt und wo die Palmen aus der Kinderbibel wachsen und Kamele vorübertrotten und immer die Sonne scheint. Dort ist es nicht grau und kalt wie hier an der Weser in Bremen, sondern immer warm. Dort kann man nackt herumlaufen und die Sonne auf dem Leib spüren und wird am ganzen Körper goldbraun. Hier im Waisenhaus ist es böse, nackt zu sein. Es gibt ein kleines Mädchen hier, Helga, die ist neu und liegt den ganzen Tag weinend im Bett, darum kriecht Hanna zu ihr unter die Decke, und sie ziehen das Nachthemd aus, damit sie enger beieinander sind, und dann verschwindet Helgas Traurigkeit und ihre eigene auch. Aber dann findet Frau Agathe sie beide, und es stellt sich heraus, dass sie etwas so Böses getan haben, dass es nicht mit einer Strafe von Frau Agathe getan ist. Sie werden die Straße hochgeführt, beide immer noch so nackt wie kleine geschälte Früchte, hin zum Pfarrhaus, wo sie ihr Urteil empfangen sollen. Dort erwartet sie Pastor Ulrich, ein riesig fetter, runder Mensch mit einem schweißgebadeten Mondgesicht, die schwarze Weste voller Flecken vom Essen der vergangenen Woche – Eigelb und Kohl und Rote Beete und Fleisch und Soße –, mit über dem Bauch gefalteten großen, weichen Händen. Mit seiner Fistelstimme erklärt er ihnen, dass Nacktheit eine Sünde sei, eine Todsünde. In Zukunft wird er Hanna jeden Sonntag nach der Kirche zu sich bestellen, damit sie ihre Sünden während der vergangenen Woche bekennt, und jedes Mal besteht er darauf, persönlich nachzuprüfen – das kann er nämlich mit seiner fetten Hand ertasten –, ob sie wieder gesündigt hat. Und dann wird er sie dort kneifen und die kleinen Lippen sadistisch zusammendrücken, bis sie blaue Flecke hat oder sogar Blutblasen. Das Geräusch seiner Stimme schrumpft genauso wie die Geräusche der großen Glocke und die der Ochsen, die im Schlachthof, zu dem man sie direkt am Waisenhaus in der Hutfilterstraße vorbeigetrieben hat, ein wehes Muhen ausstoßen, und wird immer kleiner, damit es sich verstecken kann. Das Gleiche geschieht mit den schönen Geräuschen. Mit den winterlichen Geräuschen zum Beispiel, an Tagen, wenn jedermann außer den Mädchen aus dem Waisenhaus, die Grau tragen, seine schönsten Kleider anzieht, um auf der Weser Schlittschuh laufen zu gehen. Jedermann, ja sogar die ganz Alten, die nicht mehr gehen, aber irgendwie immer noch eislaufen können, sofern jemand sie aufrecht aufs Eis stellt, jeder einzelne Einwohner der Stadt findet sich hier ein. Es ist eine solche Menschenmenge, dass Hanna glaubt, selbst die vor Jahren Verstorbenen haben sich dazugesellt, und der Lärm, den sie alle zusammen veranstalten, ballt sich zu einem einzigen großen Geräusch zusammen, etwas wie der Posaunenstoß aus der Blaskapelle, die feiertags auf dem Rathausplatz spielt, und dann wird es kleiner und kleiner, bis es in den geheimen Raum der Muschel hineinpasst, die sie an diesem Tag vom grauen Kieselstrand der Weser mit nach Hause bringt.
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