1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 „Weiter, weiter!“ Der Professor zog die Uhr und trommelte nervös auf dem Rücken des Begleiters. „Spielen Sie dieselbe Leier noch mal. Fräulein Langen, Sie jetzt! Aber ich bitte, hoch genug; es ist zum Verrücktwerden!“
Das überschlanke Mädchen trat neben den Flügel. Lena Langen hatte sich wenig verändert seit dem Herbst, die scharfe Winterluft draussen hatte das blassbräunliche Gesicht nicht frischer gefärbt; jetzt brannte ihr das Rot der Erregung auf den Wangen, gerade unter den Augen, sie sah ängstlich drein.
Der Begleiter schlug die einleitenden Akkorde an, es war die grosse Arie aus der Schöpfung: Auf stolzem Fittich schwinget sich der Adler. Das Rezitativ glückte; aber nun — „Mehr Kraft, Kraft,“ brüllte der Professor. „Halt! Denken Sie, mit solchem Gepiepe schwingt sich ein Adler? Höchstens eine Gans.“
„Ha ha, ha ha ha!“ Allgemeines Gelächter. Professor Dämel sah sich schmunzelnd, den langen glänzenden Bart streichend, um. Er liebte es, Witze zu machen, und wenn sie auch schlecht waren, was schadete das? Aus berühmtem Mund macht sich dergleichen immer geistreich.
Sämtliche Schülerinnen der Ensemblestunde wollten vergehen vor Lachen — nein, war das amüsant, witzig! Kein Adler, eine Gans, ha ha ha! Sie hielten die Taschentücher vors Gesicht und prusteten.
Der Professor konnte mit dem Erfolg zufrieden sein. Noch ein Schmunzeln, dann mit plötzlicher Amtsmiene, aber in gemässigterem Tone: „Bitte, noch einmal, Fräulein Langen! Mehr Kraft! Tief Atempumpen, hier, hier“ — er schlug sich auf den Bauch — „Stimmritze weit offen! Also!“
Die Arie begann von neuem. Lena strengte sich übermässig an; die Sehnen an ihrem Hals schwollen, sie holte Atem, dass man glaubte, die Brust müsse ihr zerspringen, das Notenblatt in der Hand bebte. Nun war sie zu Ende. Ein Kitzel kam ihr in die überanstrengte Kehle, sie quälte sich mit einem kurzen Gehüstel.
„Leidlich, leidlich,“ sagte der Professor. „Musikalische Auffassung ganz gut, auch die Intonation — hm, hm — aber Sie können das Musikstück nicht zur Geltung bringen, Ihnen fehlen eben die Stimmittel. Nicht alle Mittel, bewahre,“ setzte er nach einem raschen Blick in das Gesicht der Schülerin hinzu, „jedoch — hm — der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach!“ Wieder ein Witz! Nein, heute jagte einer den anderen!
„Die Folgende!“
Ein elegantes Kleid rauschte; mit Wohlgefallen sah der berühmte Mann auf die üppige Gestalt. Fräulein Krotoschinska war aus Ostpreussen — ‚Astpreissen‘, sagte sie —, wollte zur Bühne gehen und liess sich jetzt, das letzte halbe Jahr auf dem Konservatorium, eigentlich nur noch herab, die Stunden zu besuchen. Pünktlich war sie nie gewesen, aber desto talentierter. Sie konnte zwei Töne nebeneinander treffen, sogar zuweilen die Terz; sie hielt sich einen Begleiter, sogenannten Einpauker, und hatte dieser zwanzigmal eine Sache mit ihr durchgearbeitet, wickelte sie sie ab wie auf der Drehorgel. Aber wenn Fräulein Krotoschinska so dastand, die volle Brust herausgedrückt, die grossen Augen umherfeuernd, ihre mächtigen Töne herausschleudernd, dann musste jeder gestehen: „Ah, dieses Talent!“
Professor Dämel strich immer häufiger den glänzenden Bart, er war sehr befriedigt. Das stark ‚Astpreissische‘ störte ihn nicht, ebensowenig das Tremolo. Bei diesem Material! Er schätzte es besonders, weil es ihm noch nicht gelungen war, es zu ruinieren. Und dann die Erscheinung! „Sehr gut, liebes Kind, sehr gut! Setzen Sie sich. Ich bin von Ihrer Zukunft überzeugt. Famos, ganz famos. Schonen Sie sich nur um Gottes willen! Recht vorsichtig, vorsichtig! Sie sind es der Kunst schuldig!“
Die grosse Person mit dem breiten Brustkasten und den ausladenden Hüften setzte sich stolz. Sie war etwas müde, sie hatte die Nacht durch getanzt, und heute stand noch viel Amüsement bevor. Beim Lob des Professors verzog sie die Lippen zu ihrem stereotypen, ruhigen Lächeln — wie der gute Mann sich anstrengte! Er war wirklich sehr nett zu ihr; kniff sie gern in die Backen und tätschelte ihr die Schulter, wenn sie allein waren. Fräulein Krotoschinska hatte nichts dagegen, er war ja ein alter Mann, wenigstens aus den Jahren, die bei ihr in Betracht kamen. Sie schloss die Augen halb und hörte nicht im entferntesten auf die Klänge des Klaviers und die ewigschönen Meisterweisen; in ihren Ohren war nichts wie Tanzgeklimper und Kleiderrauschen und Schlittenklingeln und Pfropfenknallen. Ja, solch ein Talent! Die Brillantboutons in ihren Ohren funkelten. Sie seien nicht echt, meinten die Neidischen; aber sie waren es doch. Fräulein Krotoschinska sagte nicht, von wem sie sie kürzlich bekommen hatte, selbst Lena Langen wusste nicht darum, und die war doch entschieden die Bevorzugte, die sass neben der Krotoschinska und bekam allerhand in die Ohren getuschelt. Sie tat ja auch der schönen ‚Astpreissin‘ in keiner Beziehung Eintrag.
Die Stunde ging weiter. „Der Gerechte muss viel leiden,“ seufzte der berühmte Mann dem Begleiter ins Ohr. Und dann laut: „Wir haben nun den Adler genug sich aufschwingen lassen“ — er sah mit einem heimlichen Gähnen nach der Uhr — „ah, erst dreiviertel zwei!“ Ein zweites, intensiveres Gähnen. „Schön, sehr schön, wir haben noch eine weitere Viertelstunde für unsere Kunst. Fräulein Langen, säuseln Sie uns mal ein Schumannsches Lied, das ist mehr Ihr Fall. Na, na, voran! Schnell, schnell, Zeit ist Geld!“
Widerwillig hatte sich Lena erhoben. Ihr war die Lust vergangen. Die fatalen Witze des Professors, der Gesang der Krotoschinska, ihr eignes Singen ekelten sie an. Eine tiefe Niedergeschlagenheit war in ihrer Seele. ‚Ihnen fehlen die Stimmittel‘ — schwer, lastend waren diese Worte auf sie niedergefallen. Oh, wer Töne in der Kehle hätte, mächtig wie das Brausen der Orgel, voll und gross, wie jene da im eleganten Kleid sie besass. Fast wie Neid wollte es sie beschleichen — die brauchte nur den Mund aufzumachen und den Ton hervorquellen zu lassen, der Professor war entzückt. Aber nein — mit einem Ruck stand Lena kerzengerade — nicht wie die Krotoschinska! Es gab eine andere, eine heiligere Musik, die gefühlt sein wollte bis in die Fingerspitzen und bis in jede tiefste Faser des Innern.
Die Augen leuchteten dem Mädchen, frei stand sie da, kein Heft in den Händen; ihren Schumann kannte sie. Der Klavierspieler begann die weiche Begleitung, leise setzte sie ein. Ihre Stimme war leicht gedeckt, wie von einem Hauch, zu dieser Musik passte sie aber. Verträumt, mit wehmütiger Innigkeit kamen ihr die Töne von den Lippen; mit einem entrückten Ausdruck in den Augen schien sie in eine schöne Ferne zu blicken. Sie sah nicht die weissgestrichenen Wände des Musiksaals, nicht das breite Fenster, durch das jetzt ein Strahl bleicher Wintersonne auf ihre Stirn fiel. Die Hände lose ineinandergelegt, veränderte sie ihre Stellung nicht während des Gesangs, nur bei besonders tief empfundenen Stellen presste sie die Finger fester ineinander, und ein hohes Rot stieg ihr in die Wangen.
„Gut, sehr gut!“ Der Professor klappte leicht die Hände zusammen. „Sie haben Ausdrucksvermögen, wie man zu sagen pflegt; Sie singen passioniert — ja, ja, Schumann haben Sie weg! Ihr Herz und Ihre Stimme verstehen sich da sehr gut. Haha!“ Der berühmte Mann sammelte bewundernde Blicke ein für diese feine Bemerkung, dann klopfte er sich auf den Magen: „Der da wird rebellisch. Ein gutes Mittagessen ist nicht zu verachten, auch ein Genuss, ebenso wie Beethovens Neunte und Schumanns Dichterliebe. Schluss, meine Damen! Und Sie, Fräulein Krotoschinska, Vorsicht, Vorsicht! Denken Sie an Ihr kostbares Material!“
Der Begleiter klappte den Flügel zu und reckte sich, er war ganz steif geworden von aller Kunst. Räuspern, Füssescharren, dann plötzlich, wie losbrechend, allgemeines Geschwatz.
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