„Oh!“ Sie schielte nach den Malergerätschaften, die oben im Netz schaukelten.
„Nein, nein,“ er lachte halb spöttisch, halb leichtsinnig, „wirklich nur ein Dilettant, auch hierin. Aber man gibt die Hoffnung im Leben nicht auf. Einmal muss es doch kommen, das, nach dem man Durst hat, das“ — er schloss die Hand und öffnete sie wieder — „das — ich weiss nicht, wie ich’s nennen soll!“
„Ach,“ sie wurde zutraulich, „geht’s Ihnen so wie mir? Ich hatte nicht bloss Hunger auf Ihr Butterbrot. Sind Sie auch nie satt? Ich meine geistig. Einen Tag ist man so voll und könnte die Welt stürmen, und den anderen ist man dann wieder so erbärmlich und klein und hat gar keine Courage zu was. Es ist greulich!“ Sie legte die Hände ineinander und sah wehmütig drein. „Ob grosse Leute, wie Schiller und Goethe und Beethoven und Mozart, auch so gefühlt haben?“
„Diese führenden Geister? Sie greifen gleich sehr hoch!“
„Hoch oder gar nicht!“ Sie warf den Kopf hintenüber.
„Das sage ich auch!“ Seine Augen blitzten. „Wer will es uns wehren, nach den Sternen zu greifen? Hallo!“ Er sprang auf, die Früchte rollten ihm unbeachtet vom Schoss auf den staubigen Kupeeboden. „Sie sind Künstlerin, gnädiges Fräulein?“
„Ich möchte gern.“ Ein banger Ausdruck trat in ihr Gesicht. „Wenn’s mir nur gelingt!“
„Es wird, es wird!“ Er sah sie an.
Sie blickte geradeaus, ihre Augen waren tief geworden, ihr schmales weiches Gesicht erschien bedeutender.
„Ich muss etwas erreichen,“ sagte sie wie für sich. „Ja“ — sie sagte es mit Vehemenz, alle ihre Enttäuschungen, besonders der letzte Kummer fielen ihr wieder ein. „Alles andre ist doch nichts! Ich möchte eine grosse Sängerin werden. Wissen Sie“ — nun klang ihr Ton gemässigter —, „wir hatten in unserem Garten in der kleinen Stadt, wo mein Vater Landrat war, einen Birnbaum, einen sehr grossen Birnbaum; unten hingen immer Birnen genug, die mochte ich aber nicht. Oben an den Ästen, die, auf welche die Sonne prall schien, die der Wind schaukelte, die wollte ich. Xmal bin ich als Kind hinaufgeklettert, oft heruntergefallen, und wenn ich nicht ’ran konnte, weinte ich. Es geht mir immer noch so.“
„So?“ Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare, und dann sagte er zerstreut nochmals: „So, so.“ Jetzt lachte er kurz auf und strich sich wieder durch die Haare mit der gleichen nervösen Bewegung. „Ja, die Früchte, die sitzen verdammt hoch, aber man muss nur den Glauben an sich selbst nicht verlieren — äh!“ Er zuckte mit den Schultern und griff dann mit rascher Bewegung nach dem Becher. Er füllte ihn aufs neue. „Prost, gnädiges Fräulein, prost! Es lebe die Kunst!“
Sie nickte ihm zu. Das Fenster war geöffnet, ein rascher Wind fächelte herein und hob spielend die braunen Lockenringel auf der Mädchenstirn. Lena fühlte keinen Kopfschmerz mehr, sie dachte augenblicklich herzlich wenig an den letzten schweren Kummer. Es plauderte sich gut mit dem Reisegefährten. Er war hübsch; was er sagte, schien klug. Er hatte etwas — wie sollte man’s nennen? — etwas Nachlässiges im Reden, leichtlebig Freies, und doch zuweilen einen schwermütigen Augenaufschlag. Er war entschieden ein Künstler.
Der Zug raste dahin, die Zeit verging rasch. Lena hatte eine unangenehme Empfindung im Herzen, als es hiess: Köln. Nun musste man sich trennen — schade!
Aber nein, er fragte: „Reisen Sie auch weiter nach Berlin?“
„Natürlich!“ Sie lachte fröhlich auf, sie war auf einmal so vergnügt. Also aus derselben Stadt — wie konnte es auch anders sein?! Sie waren plötzlich wie alte Bekannte.
Auf dem weiten Perron, vor dem in einer Art von maurischem Stil gehaltenen Bahnhofsgebäude, wogten die Reisenden hin und her. Es war ein sehr internationales Publikum mit Wagenladungen ungeheurer Koffer; schon auf zehn Schritt roch man das Chyper der Engländerinnen und das Patschuli der Französinnen.
Die Kölner Gepäckträger mit ihrer breiten faulen Sprache machten sich Platz: „Aufjepa—a—asst!“
„Kelnische Zei—i—tung! Kladderrrrra—a—dattsch!“ Ein Zeitungsjunge schrie mit gellender Stimme.
„Fatal!“ Bredenhofer fuhr sich mit beiden Händen an die Ohren. „Äh, ich kann den Lärm nicht ertragen; grässlich! Wir haben Zeit genug, gehen wir in den Dom!“ —
Und nun standen sie auf dem Domplatz; ungeheuer, wie ein steinerner Berg, dessen Spitzen in den Himmel ragen, hob sich der Dom vor ihnen. Die Kreuzblumen der Türme von blauem Äther umflossen; goldener Sonnenschein verklärte den grauen Koloss.
Lena kannte Köln, sie kannte den Dom; so schön wie heute war er ihr noch nie erschienen, das lebhafte Entzücken ihres Begleiters steckte sie an.
Bredenhofer war ganz aufgeregt. Mit allen möglichen technischen Ausdrücken erklärte er ihr dieses und jenes — sie war erstaunt, was er alles wusste —, und wo ihm ein Ausdruck mangelte, half er sich durch einen Witz. Mit einem aus Heiterkeit und Andacht gemischten Gefühl trat sie ins Portal.
Drinnen heiligste Dämmerung, durchschossen vom wunderbar mystischen Licht der bunten Glasfenster. Unterm Kreuzgewölbe eine schwebende Luft von Weihrauch und geschmolzenem Wachs; vor den Seitenaltären flackernde Kerzen und steife Heiligengestalten, die gekrümmten Finger segnend ausgestreckt. Es zwang einen zum Flüstern; wer hätte hier ein lautes Wort gewagt?
Lena war blass geworden; die kühle Dämmerung durchschauerte sie und daneben eine scheue Ahnung der grossen hohen Poesie. Ihre Brust hob und senkte sich, ihr Atem zitterte, verstohlen sah sie ihren Begleiter an. Er hatte den Hut abgenommen, seine Stirn leuchtete merkwürdig weiss, wie die eines Mädchens; er starrte geradeaus und bewegte die Lippen.
Nun fühlte er ihren Blick, er fasste nach ihrer Hand und hielt sie mit leisem Druck; sie wagte nicht, ihre Finger wegzuziehen. Auf den Zehenspitzen schlichen sie an den geschnitzten Beichtstühlen entlang; wie schön musste es sein, sich hinter den grünseidenen, sanftrauschenden Gardinchen all seiner Kümmernisse zu entledigen! Lena fühlte ihr Herz klopfen, sie bedauerte fast, dass sie nicht katholisch war.
Jetzt waren sie in der Seitennische, vor dem kleinen Altar des wundertätigen Marienbildes; das Triptychon war geöffnet, das süsse Madonnenantlitz mit dem sich anschmiegenden heiligen Kinde lächelte vom Goldgrund auf sie nieder. Unwiderstehlich fühlte sich Lena niedergezogen — es war Bredenhofers Hand, die sie zwang, auf dem schmalen roten Bänkchen zu knien, sein warmer Atem streifte ihre Wange.
Halb gesungen, halb geflüstert klang es ihr ins Ohr:
„Im Dom, da steht ein Bildnis,
auf goldenem Grunde gemalt;
in meines Lebens Wildnis
hat’s freundlich hineingestrahlt —“
Er hielt noch immer ihre Hand, jetzt — jetzt — der Druck! Sie erschrak bis ins innerste Herz.
„Die Augen, die Lippen, die Wänglein,
die gleichen der Liebsten genau!“
Sie war gemeint, sie fühlte es, und sie errötete über und über. Sie hob die Lider nicht.
Jetzt gab er ihre Finger frei. Ohne Wort, stumm nebeneinander herwandelnd, durchschritten sie die andere Seite der Kirche. Jetzt kam das Portal. Sie waren wieder draussen.
Das laute Gewühl des Marktes schlug ihnen entgegen, Droschken jagten zum nahen Bahnhof, Lastfuhrwerke ratterten hinunter zur Schiffbrücke; es war wieder Tag, nüchterner Tag, greller Sonnenschein fiel aufs Pflaster. Lena blinzelte, sie schloss für einen Augenblick die Augen.
„Nehmen Sie meinen Arm,“ sagte Bredenhofer, und sie tat’s ohne Ziererei. Arm in Arm schlenderten sie an den Läden der Hochstrasse entlang. Wer kannte sie beide hier in der fremden Stadt? Menschen im Geschäftsschritt hasteten vorüber, bunt gekleidete Kölnerinnen mit auffallenden Hüten machten ihre Einkäufe in den Läden; die beiden wanderten zwischen allen durch, aus einer ganz anderen Welt kommend, sich gegenseitig fremd und doch einander so merkwürdig nah. Es fiel Lena gar nicht ein, dass sie Unschickliches tat; harmlos vergnügt hatte sie den Schleier zurückgeschlagen und den weiten Mantel aufgeknöpft, man sah ihre schmale, zarte Gestalt und die angedeuteten Grübchen in ihren Wangen.
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