Eine Hand drückte auf die Klinke, nun ein Pochen. „Lena!“
Sie horchte, aber sie rührte sich nicht. Es war des Bruders Stimme.
„Liebe Lena! Lena, hörst du mich nicht?“
„Was willst du?“
„Lena, es tut mir so leid, es ist mir so unangenehm, ich bitte dich —“
„Weiss Amalie, dass du hier bist?“ unterbrach sie ihn rasch.
„N—ein!“ Das ‚Nein‘ klang zögernd.
„So geh!“ Der Trotz stieg ihr zu Kopf. „Wenn du nicht den Mut hast, offen zu mir zu halten, vor allen, dann —“
„Lena, Lena, sei doch verständig! Wir haben Kinder — sie liebt mich — ich lebe mit ihr — ich — du weisst nicht, was die Ehe ist!“
„Dann — dann danke ich! Ich reise morgen ab.“ Tonlos klang’s und doch deutlich vernehmbar. Lena hielt sich die Ohren zu, sie mochte nicht hören, was der draussen sagen würde. Heisse Tränen liefen ihr über die Wangen.
Alles still. Ob er noch vor der Tür stand? Sie nahm die Hände von den Ohren — ja, er flüsterte: „Lena, was wird die Mutter sagen? Amalie wird sich besinnen. Lena, Lena, tu mir’s zulieb, reise nicht so Knall und Fall ab! Bleibe — mir zulieb!“
Wie schmerzlich das ‚mir zulieb‘ klang!
„Nein!“ Lena presste wieder die Hände an die Ohren und den Kopf zwischen Sofakissen und Lehne. Sie konnte es nicht verhindern, dass sie draussen immer noch das Flüstern und Pochen hörte — oder war’s ihr nur so?
Sie horchte. Nichts, gar nichts mehr! Er war gegangen.
Der Morgen kam herauf. In dem kleinen Zimmer mit dem zerwühlten Bett und dem geöffneten Koffer war fahle Frühbeleuchtung.
Lena trat hin und her, schon in Hut und Mantel; jetzt sah sie sich um. In dem nüchternen Licht erschien ihr alles anders als gestern. Im Dunkel der Nacht war sie sich wie eine Märtyrerin vorgekommen; Hirngespinste, Träume hatten sie umwoben — und jetzt —?! Was würde die Mutter sagen? Zu Tode erschrecken musste sie über ihre plötzliche Heimkehr. Und Fritz?! ‚Bleibe mir zulieb‘, hatte er gesagt. Er würde böse sein. Sinnend blieb Lena stehen. — Aber Amalie?
„Nein, ich reise ab!“ Der eigensinnige Zug um Lenas Mundwinkel trat deutlicher hervor, mit einem Ruck warf sie den Kofferdeckel zu und setzte sich darauf; das Schloss schnappte ein.
Nebenan in der Mägdekammer rührte sich’s, jetzt klappte die Tür. Lena öffnete rasch die ihre: „Marie, hören Sie! Wenn der Herr fragt, sagen Sie, ich wäre abgereist. Ich muss abreisen; sofort!“ Sie vermied den Blick der Magd. „Ich will niemanden stören. Vom Bahnhof schicke ich einen Dienstmann, geben Sie ihm meinen Koffer. Adieu!“ Schon war sie die Treppe hinunter, und Marie sah ihr kopfschüttelnd nach. Allzu verwundert war die Marie nicht.
Draussen war’s noch menschenleer; in der Allee, zwischen den Villen und Gärten, begegnete der Eilenden niemand. Überall waren die grünen Jalousien geschlossen; hinter den Eisengittern die Blumen taubesprengt. Und drüben, jenseits der Mosel, die Berge in wunderbarem Duft; um die Spitze der Mariensäule das erste Gleissen der hervorbrechenden Sonne.
Lena sah nicht hin, sie rannte wie auf der Flucht; jetzt mässigte sie ihren Schritt — die ersten Menschen! Durchs alte römische Stadttor, in die innere Stadt hinein, zogen die Marktleute, Wagen knarrten, Hunde bellten; Lena empfand das Quietschen der Räder schneidend bis ins Mark. Sie fröstelte; sie war übernächtig, die Augen brannten, der Kopf schmerzte.
Jetzt war sie am Bahnhof. Wenige Kofferträger lungerten umher; einen derselben schickte sie ab, und dann setzte sie sich in den Wartesaal. Es war so lange Zeit, über eine Stunde noch. Sie bestellte sich Kaffee und mochte ihn doch nicht trinken, ein übles Gefühl sass ihr in der Kehle; es war ihr alles zuwider. Sie fühlte sich grenzenlos elend; verstört schweifte ihr Blick an den Wänden auf und nieder. Da die Bilder einiger Potentaten, in Reih und Glied aufgehängt; in der Mitte die Büste des Kaisers, sie war neugegipst, der Eichenkranz sass schief. Und da das Büfett mit der unvermeidlichen dicken Mamsell, dem verschlafenen Kellner und den vertrockneten Brötchen unter Glasglocken.
Ab und zu klappte die Tür; übermodern gekleidete Handlungsreisende mit Musterkoffern stürmten herein und riefen gähnend nach einer Tasse Kaffee. Endlos dehnten sich die Minuten. Lena stützte den schmerzenden Kopf in die Hand. Nie im Leben glaubte sie unglücklicher gewesen zu sein, nie unglücklicher sein zu können; der öde Bahnhof, die herbe Morgenfrühe, hier ihr einsamer Winkel, die nüchterne Leere in ihrem eignen Innern, alles stimmte zueinander. Kein Mensch kümmerte sich um sie.
Und er liess sie ungehindert aus seinem Hause gehen. Wie eine, die etwas verbrochen, hatte sie fliehen müssen!
Sie stöhnte und biss sich dann auf die Lippen; sie hätte in heisse Tränen ausbrechen mögen, aber nein, nicht weinen! Der Stolz verbot es ihr. Sie versuchte nun doch den Kaffee, langsam, Löffelchen um Löffelchen, und dazwischen blickte sie nach der Tür; ob der Kofferträger bald kam? Auf der Uhr dort über dem Büfett rückten die Zeiger allmählich vor.
Da — sie liess den Löffel aus der Hand fallen, dass er auf die Untertasse klirrte. Die Tür hatte sich geöffnet; vor dem Dienstmann her drängte sich eine wohlbekannte Gestalt, den Überzieher nicht zugeknöpft, den Schlips ungebunden, lose herunterhängend.
Lena sah’s in einem Augenblick und musste lächeln in aller Betrübnis — ihr ordentlicher Bruder, dem konnte das passieren? Ja, er liebte sie doch!
„Lena, Lena!“ Landgerichtsrat Langen trat atemlos an den Tisch. „Was tust du mir an? Marie sagte mir eben, du seist fort, und gerade kommt auch der Dienstmann und will deinen Koffer holen. Ich bitte dich, Lena, mach’ keinen Eklat! Bleib, Lena!“ Er suchte ihren Blick.
Eine heimliche Freude durchzuckte sie, aber sie bezwang sich. „Haben Sie den Koffer?“ fragte sie den Träger.
„Jawohl, Madam!“
„Kommen Sie mit an den Schalter, ich habe noch kein Billett.“ Und sich flüchtig zum Bruder wendend: „Ich bin gleich wieder hier.“
„Lena, Lena!“
Sie zögerte. Sein Ton durchschauerte sie; blass und rot flog es über ihr Gesicht, unschlüssig senkte sie den Kopf.
„Lena, wenn ich dich nun bitte?! Amalie hat mir versprochen, liebenswürdig zu sein, sie lässt dich grüssen und bittet dich, zurückzukommen, sie — zucke nicht so mit dem Mund! — sie ist wirklich verständiger als du!“
„So?“ Lena zuckte zusammen, es traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. „Ich — ich — kommen Sie,“ sagte sie hart zu dem Dienstmann.
„Lena, du bist eigensinnig, trotzig!“
Sie hörte ihn nicht mehr, sie war schon hinaus. Oh, dieses Mädchen! Unwirsch, mit raschen Schritten, ging Langen vor dem Tisch hin und her. Er kannte diese Falte zwischen ihren Brauen, diesen Zug um den aufgeworfenen Mund. Eine tiefe Bekümmernis stieg in seiner Seele auf; wie würde sie im Leben noch anlaufen! Die Mutter war viel zu schwach, er selbst konnte nicht immer bei ihr sein — und wenn auch, folgte sie denn? Sie war liebevoll und schmiegsam, aber nur bis zu einer gewissen Grenze; da stand ihr eigner Wille, machte sich breit und liess nichts anderes passieren. Nach wieviel Kämpfen hatte sie’s durchgesetzt, Musik zu studieren. Sängerin werden! Sie hatten’s ihr alle gesagt, ihr Körper sei nicht stark, ihre Stimme schwach — vergebens! Die Mutter musste nach Berlin ziehen, pekuniäre Opfer wurden gebracht, seit Jahren wurde nun studiert; sie musste eben mit dem Kopf durch die Wand.
Ärgerlich riss Langen an seinem Schnurrbart. Da trat sie wieder in den Saal, schlank und schmächtig im langen Reisemantel, den Schleier zurückgeschlagen von dem blassen, aufgeregten Gesicht; ihre grossen Augen blickten trüb. Nein, er konnte ihr nicht böse sein! Eine grosse Zärtlichkeit wallte in ihm auf.
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