„Ja, ich liess deine Hand nicht los, ich war so stolz, wenn du statt mit deinen grossen Herren und Damen mit mir gingst. Weisst du noch, unsere Spaziergänge an meinen schulfreien Nachmittagen? Wir suchten Blumen und Beeren, du machtest mir einen Kranz und küsstest mich. Du sagtest: mein Biederweibchen. Da war ich so selig, dass ich ordentlich fühlte, wie mir das Herz gegen die Rippen schlug.“ Lena war rot geworden, die Tränen schossen ihr in die Augen. „Sag’s noch einmal: ‚mein Biederweibchen‘! Bitte!“
Er lächelte, aber es klang gerührt: „Mein Biederweibchen!“
Die Geschwister standen wie ein Liebespaar. Ihre Gestalten waren jetzt ganz von Sonnengold umflossen; die warmen Lichter glitten an dem hellen Kleid des Mädchens auf und nieder. Beide nah zueinander geneigten Gesichter hatten denselben rötlichen Schimmer; plötzlich vertiefte sich dieser, sie fuhren auseinander.
Vom Haus her klang eine Frauenstimme: „Fritz, Fritz!“
„Amalie ruft,“ sagte der Mann und liess den Arm sinken, der die Taille der Schwester umschlungen hatte. „Ja, wir kommen schon, Amalie!“
„Dachte ich’s doch! Ihr seid hier? Ich will das zärtliche tête-à-tête nicht stören!“
Die grosse Frau, die mit langen Schritten über den berasten Gartenweg daherkam, hob kaum die Zähne voneinander, jedes Wort schien ihr zu viel. Ihre Stimme war merkwürdig klanglos. Sie beachtete die Schwägerin gar nicht und wandte sich nur an ihren Mann. „Es ist eben eine Einladung von Weiherhofs gekommen für morgen; grosse Partie auf den Kockelsberg. Ich habe zwar nachmittags erst Visitation der Kleinkinderschule, dann muss ich einen Augenblick zu den Diakonissen; aber dann komme ich sofort nach Haus, ziehe mich um, du gehst dann einfach mit mir nach. Wir werden uns eventuell einen Wagen nehmen; gar kein Gegenstand.“
„Und Lena? Soll sie mit den anderen gehen oder auf uns warten?“ fragte der Mann.
„Lena —?“ Die grosse Frau öffnete die kalten klarblauen Augen weiter. „Lena ist gar nicht mit eingeladen!“
„So — dann verzichte ich.“
„Was — du willst deswegen nicht annehmen?“ Das blasse Gesicht der Frau wurde dunkelrot, man sah, wie ihr das Blut zu Kopf schoss. „Einfach lächerlich! Lena wollte ja keine Besuche machen,“ setzte sie mürrisch hinzu.
„Ich? Du hast mich gar nicht dazu aufgefordert!“ Des Mädchens Augen funkelten. „Übrigens“ — ihr Blick streifte rasch das verfinsterte Gesicht des Bruders —, „ich mache mir nichts aus Einladungen, ich bleibe lieber zu Haus.“
„Das dachte ich mir auch,“ sagte die Schwägerin rasch. „Lena macht sich nichts aus unseren kleinstädtischen Vergnügungen, und dann“ — sie hob die schmale Lippe spöttisch —, „in unseren Kreisen findet sie wenig Nahrung für ihre extravaganten Ideen. Bei ihrer sogenannten Künstlergesellschaft in Berlin mag sie besser am Platz sein; ich muss gestehen, ich käme um in solcher Luft. Komm, Fritz,“ sie nahm seinen Arm, „das Abendessen ist fertig. Die Kinder warten noch auf dich mit dem Beten!“ Sie zwang ihn, seinen Schritt ihrem eigenen, weit ausholenden anzupassen.
Ihr seidenes Kleid raschelte. Frau Amalie Langen trug meist seidene Kleider, auch im Hause. Prall spannte sich der schmiegsame Stoff über ihre volle Büste, ihr stattlicher Körper bot eine vorteilhafte Auslage; ihr Vater, der reiche Seidenfabrikant im Wuppertal, wusste das, er schickte der Tochter immer die neuesten Muster.
Langsam schlenderte Lena hinter dem Ehepaar drein. Da war das Beet mit den Georginen, ringsum von abgezirkeltem Buchsbaum eingefasst. Sie waren der einzige Blumenschmuck im Garten. Frau Langen war nicht für Überflüssiges, nur diese steifen, farbenstrotzenden Dinger liebte sie; jetzt blühten sie in voller Pracht.
Nachdenklich blieb Lena am Beet stehen und hob eine der dickköpfigen Blüten an ihre Nase — kein Duft, kein Honiggeruch, wie ihn selbst die wilde Feldblume entwickelt; kalt berührten die glatten Blätter ihr Gesicht. Warum sie dabei nur immer an ihre Schwägerin denken musste? Ein Seufzer hob ihre Brust: „Mein armer Bruder!“
„Lena, wo bleibst du?“ Mit eiligen Schritten kam Langen zurück, die Stufen der Veranda herunter; er fasste nach der Hand der Schwester. „Bist du böse, Lena? Beleidigt?“ Er seufzte. „Du musst das nicht so auffassen, Amalie hat eben eine, eine“ — er stockte und suchte nach dem Ausdruck — „eine etwas andere Art. Aber sie ist ein vortrefflicher Charakter. Man muss sie nur zu nehmen wissen.“
„Und verstehst du das?“ Lena hob die Augen; sie leuchteten klug aus dem bräunlichen Gesicht.
Langen biss sich auf die Lippen. „Sie liebt mich,“ sagte er ausweichend.
„Wer sollte dich nicht lieb haben?“ Sie lächelte ihn zärtlich an. „Du guter Mensch!“ Sie rieb die weiche Wange an seiner Schulter, immer auf und nieder, wie ein junges Fohlen sich an der Mutter reibt.
„Komm, wir wollen Amalie nicht warten lassen, sie liebt das nicht.“
Die Geschwister gingen miteinander ins Haus. In der Veranda war der Tisch gedeckt; im verdunkelten Zimmer dahinter hoben sich schwere geschnitzte Möbel undeutlich von den Wänden, alles solide, wie für die Ewigkeit gemacht. Jedes Stück kostete eine Summe, das sah man auf den ersten Blick. Auf dem Boden kein Teppich, der brachte nur Staub; ungehindert glitt man über spiegelblankes Parkett. Frau Amalie Langen war berühmt wegen ihres Parketts und ihrer Einrichtung; sie hielt auch etwas darauf.
Es war eigentlich gar keine Einrichtung für einen Beamten mit bescheidenem Gehalt; Landgerichtsrat Langen hätte sich aus eignen Mitteln das auch nicht leisten können. Beamtensohn ohne Vermögen — da gibt’s nur ein Achselzucken.
Die Welt fand, er hatte sehr klug getan, dass er als Amtsrichter in dem kleinen Nest im Bergischen zu den Gesellschaften und Juristenbällen nach Elberfeld hinüberfuhr. Die schöne Amalie Barminghaus hatte sich unrettbar in ihn verliebt, soweit das bei ihr überhaupt möglich war. Jedenfalls vertieften sich ihre hellen, kühlen Augen, wenn er in den Saal trat; ihre Blicke spähten umher, verfolgten ihn von Dame zu Dame, bis er endlich vor ihr stand. Ihre grosse, weisse Hand umspannte dann den kostbaren Fächer fester, ihr makelloser, blendender Hals hob und senkte sich unter lebhafteren Atemzügen.
Papa Barminghaus war nicht für Bälle, seine Tochter bis dato auch nicht. Jetzt fand Fräulein Amalie auf einmal Geschmack daran.
‚Wenn sie nur das Haar nicht so glatt aus dem Gesicht gestrichen hätte! Wie ein Dienstmädchen,‘ dachte Amtsrichter Langen, und beim Kotillon sagte er ihr, wie reizend er ungezwungene lockige Frisuren fände. „Sie sollten meine kleine Schwester sehen, Fräulein Barminghaus, sie ist noch ein Schulmädel, fünfzehn Jahr jünger als ich: es gibt nichts Entzückenderes als diesen braunen Struwelkopf!“
Sie verzog die Lippen, ohne zu antworten; aber als er am nächsten Sonntag zum Diner die Villa ihres Vaters betrat, kam sie ihm entgegen, das blonde Haar in Locken gebauscht und tief in die zu hohe Stirn frisiert. Da sah er erst, dass sie schön war.
Es war furchtbar viel Verwandtschaft da; die Frauen seidenrauschend, die Männer mit dicken Uhrketten, brillantberingt und schwerste Zigarren rauchend. Das Gespräch drehte sich um Seide und Samt und Eisenindustrie. Bekannte Firmennamen schwirrten, man spielte Fangball mit Riesensummen; der Mammon sass oben am Tisch und nickte langsam mit dem Kopf.
Der junge Amtsrichter war etwas verblüfft, die Grossartigkeit der geschäftlichen Transaktionen imponierte ihm; Tausende waren gar nichts und andere Weltgegenden nur so ‚nebenan‘. Noch mehr aber langweilte er sich. Innerlich gähnte er, er blickte seine Nachbarin, die Tochter des Hauses, von der Seite an; hatte sie’s auch nicht gemerkt? Gottlob, ihre Nasenflügel zitterten, sie verbarg auch heimlich ein Gähnen.
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