Sie traten in ein Restaurant und sassen auf dem tellergrossen Plätzchen vor der Tür, hinter der verstaubten Efeuwand. Münchener Bier schäumte in den gelblichen Steingutseideln; Lena trank, und dann hörte sie wie aus weiter Ferne, wie im Traum den Lärm der Gasse. Sie war so weit weg.
„Was für ein liebes Gesicht,“ dachte Bredenhofer. Er sass ihr gegenüber. Eine dreiste Fliege mit dickem, blauem Leib und blitzenden Flügeln kam und schwirrte um die kleine gerade Mädchennase; die zierlichen Nüstern blähten sich und zitterten. Jetzt kam das Insekt und flog auf das Seidel des Mannes und tunkte den winzigen Saugrüssel in die braune Flüssigkeit. Jetzt schwirrte es berauscht davon.
Aus einem nahen Fenster kam dünnes Klavierspiel — Bachsche Fugen oder so etwas —, aber man merkte es den klimpernden Fingern an, sie waren mehr zu einem Walzer oder einem schwenkenden Rheinländer disponiert. Jetzt klang ein scharfer Misston.
„Ces, ces!“ Der junge Mann fuhr aus seinem Sinnen auf. „Moll, Moll, doch nicht Dur! Heiliger Sebastian Bach“ — er riss die Uhr heraus —, „es ist die höchste Zeit, wir müssen fort!“
Im Sturmschritt durchquerten sie den Domplatz; die Uhr über dem Bahnhofsportal wies nur noch wenige Minuten bis zum Abgang des Zuges. Aber Bredenhofer fand doch noch Zeit; er kaufte dem blassen, spillrigen Ding mit den dreisten Augen dort am Eingang einen Strauss duftiger Herbstveilchen ab und presste sie Lena in den Gürtel.
„Viel Pläsier auf die Hochzeitsreis’!“ schrie das Mädel hinter ihnen drein.
Sie stürmten die hohe Steintreppe hinan, lachend, atemlos — nun sassen sie im Kupee. O weh, noch vier Personen darin! Zwei rundliche Holländerinnen mit Teint wie Milch und Blut und Augen, die nicht von lauter Butter und Käse so blinkten. Ein dicker Phlegmatikus schien der Ehemann der einen. Neben ihm blinzelte ein Geschäftsreisender — man erkannte ihn am Schlips letzter Mode und am Siegelring — nach der anderen Schönen.
„Aaa—chtung!“ Karren rasselten, Türen klappten.
„Kelnische Zei—i—tung! Kladderrrrra—a—dattsch!“
„Bier gefällig?! Bi—er! Bi—er!“
„Kladderrrrra—a—dattsch!“
„Noch glaubt man mit einem Fuss in der Poesie zu stehen, und schon ist man mitten in der Prosa! O weh,“ seufzte Bredenhofer und fuhr sich mit der ihm eigentümlichen nervösen Handbewegung durch das Haar.
Der Zug setzte sich in Fahrt. Bald lag Köln fern; Dom und Hochstrasse, alles der flüchtige Traum einer sonnigen Mittagsstunde.
*
Sie hatten viel geplaudert, halblaut, die Köpfe nah zusammengeneigt. Es hatte einen eigentümlichen Reiz gehabt, so verstohlen miteinander zu sprechen, unverstanden von den übrigen. Dies Flüstern brachte sie sich gegenseitig näher, es richtete eine Mauer um sie auf, über die kein neugieriges Auge schauen konnte.
Es war längst Abend. Draussen vor den Kupeefenstern undurchdringliche Dunkelheit, nur ab und zu huschte eine schwach erleuchtete Station vorüber. Immer weiter von der sonnigen Mittagsstunde fort, immer näher, näher dem grossen Berlin, in dem man untersinkt in Menschenwogen und sich nie mehr begegnet.
Lena hatte geschlafen; sie wachte verwirrt auf. Oben an der Decke, vom blauen Gardinchen verhüllt, der umflorte Schein der Lampe; jenseits das Fenster geöffnet, trotzdem eine warme, matte Luft im Kupee. Lena fasste sich an den Kopf und strich sich die wirren Haare aus den Schläfen; sie hatte geträumt, sie wusste nicht recht, wo sie war — bei Fritz oben im kleinen Stübchen, im grossen Kölner Dom oder zu Hause, drei Treppen hoch, in Berlin?
Verwundert machte sie die Augen weit auf; sie war in der Eisenbahn, aber die Sitze leer, das viele Gepäck verschwunden. Wo waren die dicken Holländerinnen mit dem phlegmatischen Ehemann, wo der Geschäftsreisende? Alle weg; nur ihr gegenüber in der Ecke sass Bredenhofer und sah sie unverwandt an.
„Wo — wo — wo sind sie?“
„Alle ausgestiegen, in Braunschweig, Magdeburg, was weiss ich!“ Er lächelte. „Sie haben lange geschlafen, süss geschlafen; Sie haben nichts gemerkt.“
„Oh!“ Sie zog ihre lässig ausgestreckten Füsse näher an sich und richtete sich stramm auf. Sein unausgesetzter Blick verwirrte sie. „Wie lange dauert’s noch bis Berlin?“
Er zog die Uhr. „Eine Viertelstunde!“
Ein Schreck durchfuhr sie, so plötzlich, so jäh, dass sie über diesen Schreck nun wieder aufs neue erschrak. Warum fürchtete sie sich, wovor? Das Blut stieg ihr zu Kopf, es wirbelte ihr vor den Augen.
„Es tut mir leid,“ hörte sie seine weiche Stimme sagen, „sehr leid; ich wünschte, es wären noch Stunden bis Berlin. Es ist merkwürdig, wie man sich mit jemandem in einer kurzen Spanne Zeit so anfreunden kann! Das macht: gleiches Denken, gleiches Empfinden und der Gott, der uns in der Brust wohnt. Schlagen Sie ein“ — er hielt ihr die Hand hin —, „sagen Sie mir, dass Sie dem Reisegefährten ein freundliches Andenken bewahren werden; ja?“
„Wenn Sie das Gleiche tun,“ antwortete sie zögernd.
„Mein Gott!“ Er lachte, dann sang er mit einer sehr angenehmen Tenorstimme:
„Andre Städtchen kommen freilich,
andre Mädchen zu Gesicht;
ach, wohl sind es andre Mädchen,
doch die eine ist es nicht!“
„Die eine ist es nicht,“ wiederholte er mit zärtlichem Tonfall.
„Sie sind ja auch musikalisch,“ sagte sie ausweichend, „Sie können doch alles!“
Er hielt ihr noch immer die ausgestreckte Hand hin. „Bitte, sagen Sie mir doch, dass Sie mich nicht ganz vergessen werden! Bitte, Fräulein Langen!“
Sie wagte nicht, ihn anzusehen. „O nein,“ brachte sie gepresst hervor. Sie sprang auf und griff nach ihren Sachen; sie stellte sich recht ungeschickt dabei an. Er half ihr. Er hielt ihr den Mantel, beim Hineinschlüpfen fühlte sie, wie er sanft ihren Arm presste; sie bekam ein eigentümliches Beben in den Knien. Und dann drückte sie sich den Hut aufs Haar, zog die Handschuhe an und sass ganz still mit zusammengelegten Fingern.
Er stand am Fenster. „Da — da,“ sagte er plötzlich, „schon das lange Rangiergeleise und die vielen Lichter!“
Rot, blau, grün glitt es vorüber, der Zug fuhr langsamer.
„Jetzt — jetzt sind wir gleich da!“
Kritsch, kratsch! Das Quietschen der Räder ging durch alle Nerven.
Lena sprach nichts; sie sass da und senkte den Kopf auf die Brust und schielte doch von unten herauf immer nach den vorübergleitenden Lichtern und fühlte, dass ihr das Herz schlug bis in den Hals. Er trat unruhig von einem Fuss auf den andern, das Fenster lief an unter seinem Hauch. Es war so warm, so beklommen im Kupee und so still.
„Da —,“ sagte er noch einmal, „wir sind da!“
Der Zug donnerte in die Bahnhofshalle, es wurde blendend, betäubend hell.
„Leben Sie wohl!“
Sie fühlte eine Hand unter ihrem gesenkten Kinn, warme Lippen legten sich auf die ihren — einen Augenblick, eine kurze einzige Sekunde — — —
Sie stiess ihn nicht zurück, sie konnte nicht dafür, ihr Mund zuckte unter dem seinen, einen Augenblick, eine kurze einzige Sekunde, dann —
„Berlin! Alles aussteigen!“ Die Tür wurde aufgerissen.
Gewirr, Geschrei, Gewoge. Lena sah alles und sah doch auch wieder nichts — ein hastig geflüstertes, scheues Adieu — jetzt stand er schon unten auf dem Perron — jetzt rollte sich ein dunkler Knäuel der Ausgangstreppe zu, darunter war er — ah, jetzt war er verschwunden!
Sie würde ihn nie wiedersehen! —
Lena folgte mechanisch dem Gepäckträger; sie fühlte auf einmal wieder ihren ganzen Kummer.
„Höher, höher, singen Sie doch höher! Ich begreife nicht, wie man das nicht tun kann!“ Der berühmte Gesangsprofessor Dämel fuhr sich an die Ohren. „Herr Gott nochmal, singen Sie gleich höher, es ist nicht zum Aushalten — höher, höher, ich werde rasend!“ Er schrie; die Schülerin, ein junges dickliches Ding von robuster Gesundheit mit dummen, aufgerissenen Augen, brach in Tränen aus.
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