„Mutter!“ Lena war mit einem Satz am Nähtisch und stiess den Stuhl mit dem Kleid zur Seite. In plötzlichem Impuls warf sie sich vor der Mutter nieder und legte den Kopf in deren Schoss. „Gute Mutter!“ Wie eine jähe Erkenntnis war’s ihr gekommen, ihr heiss durch die Seele geschossen — die da lebte doch nur eigentlich für sie! Sie schlang beide Arme um die Taille der Mutter und wühlte den lockigen Kopf tiefer in deren Kleiderfalten. Sie hatte eine unbezwingliche Lust zu weinen — das Leben war doch zu schwer! — Schon strömten die Tränen.
„Lena, was hast du?“ Frau Langen war erschrocken, sie war aus ihrer stillen Beschaulichkeit zu plötzlich aufgejagt. Das Rot ihrer Wangen vertiefte sich; sie sah aus wie jemand, dem schon viel im Leben schief gegangen ist, und der nun noch einen härteren Schlag erwartet. „Lena, sag’ doch, ist dir was passiert?“ Ihre Stimme zitterte, sie streichelte mit bebender Hand den Scheitel der Tochter. „Was hast du, Lena?“
„Nichts, gar nichts, Mutter! Ich muss nur so weinen, ich — ich — es ist alles so grässlich, ich bin so unglücklich! Nie, nie wird was aus mir, der Professor sagt: mir fehlen die Stimmittel. Und dann hat er mich getätschelt — ich hätte Temperament, er würde mich im Konzert singen lassen — ah!“
„Aber, Lena, das ist doch alles sehr gut, ich begreife dich gar nicht!“
„Ach, Mutter!“ Hastig sprang das Mädchen auf und ballte die Hände. „Was du weisst! Er denkt, ich bin so eine — so eine —!“ Sie stampfte mit dem Fuss. „Meiner Kunst wegen will ich vorgezogen sein. Warum streb’ ich denn, warum lern’ ich denn, warum ring’ ich denn?! Mein Herz könnte zerspringen. Aus mir wird nichts“ — sie krampfte die Hände ineinander und biss sich auf die Lippen, um nicht laut zu schluchzen — „mir geht alles fehl im Leben! Warum denn gerade mir? Und ich fühl’s doch, ich hab’ was in mir — etwas — einen Funken — ach, Mutter, ich bin zu unglücklich!“ Sie warf sich wieder nieder und versteckte den Kopf.
Frau Langen sah sich mit einem ratlosen Blick um, ihr Gesicht zog sich in die Länge. „Mein Gott,“ sagte sie kleinlaut, „wie du immer gleich bist! Woher du nur diese Aufgeregtheit hast, von mir doch wahrhaftig nicht? Aber es ist auch schrecklich, ganz schrecklich, einzelne Frauen haben es zu schwer, und welche von ihnen etwas erreichen will, die erst recht.“ Ein nervöses Zucken, als ob sie weinen wollte, arbeitete in ihren Zügen. „Es ist schrecklich! Zu traurig! Du armes Kind!“ Sie streichelte immerfort den braunen Kopf in ihrem Schoss. „Weine nicht — ach Gott!“ — Die Tränen kamen ihr nun auch, ihre Stimme klang sehr erregt. „Alles geht uns fehl im Leben! Warum gerade uns?“
Lena weinte immerfort, sie hob den Kopf nicht.
Frau Langen sagte auch nichts mehr; schweren Herzens, mit kummervoller Miene sah sie auf ihr Kind nieder, ihre Finger zupften und glätteten an Lenas wirren Haaren. Die Uhr tickte schwer, nun holte sie dumpf zum Schlag aus.
„Drei!“ Die Mutter rüttelte sich seufzend. „Und gerade heute hatte ich mich so auf dein Nachhausekommen gefreut! Es ist eine Einladung für dich gekommen zu Doktor Reuter; nicht der gewöhnliche jour fixe, bewahre! Es ist eine Hoheit da, ein Grossherzog oder ein Erbprinz, denke! Reuter hat selbst geschrieben, du sollst ja kommen und etwas Hübsches singen. Ich dachte, es wäre eine grosse Auszeichnung für dich.“
„Und das sagst du mir erst jetzt? Aber Mutter?!“ Lena war blitzgeschwind auf den Füssen.
„Ja, ich konnte doch nicht! Dein Kleid hab’ ich schon angefangen zurechtzumachen.“
„Aber Mutter, warum hast du mir das nicht eher gesagt?!“ Noch blinkten die Tränen auf Lenas Wangen, aber schon strahlten ihre Augen auf. Mit einem Ruck schwang sie sich auf den Esstisch und pendelte mit den Füssen hin und her. Sie schlug die Arme unter. „So, Mutter, nun erzähl’ mal, zeig’ mal den Brief!“
„Hier ist er.“ Frau Langen holte ein Kuvert aus der Tasche. Beide Frauenköpfe neigten sich über das Billettchen.
„Wahrhaftig“ — Lena pendelte immer lebhafter — „das ist famos! Ach, wie angenehm für mich! Denk’ mal, was da alles für Berühmtheiten sein werden! Wie nett von Doktor Reuter, dass er mich singen lässt, gerade mich, es sind so viele, die sich darum reissen. Mutter,“ — das Mädchen sprang vom Tisch herunter und lief mit elastischen Schritten in der Stube auf und nieder — „Mutter, weisst du, es gibt doch viele Menschen, die mir wohlwollen!“
„Das weiss ich ja,“ sagte stolz lächelnd Frau Langen.
„Und, Mutter,“ — Lena sah hübsch aus mit dem erhitzten Gesicht und dem zerzausten Lockengeringel über der Stirn — „ich werde gut singen, sehr gut singen, ich fühle das. Ich brauche nur Glück, wirklich nur ein bisschen Glück!“ Sie hob die gefalteten Hände bittend wie ein Kind gegen die Brust. „Wenn ich nur ein bisschen Glück hätte, dann würd’ ich eine grosse Sängerin. Glaubst du, Mutter? Nicht wahr, du glaubst’s?“ Sie wartete keine Antwort ab, sie rannte auf und nieder, jetzt blieb sie stehen und drehte sich wirbelnd auf einem Absatz. „Sieh nur, Mutter, wie die Sonne zum Fenster hereinscheint, sonst ist’s um die Zeit im November schon dunkel. Sieh nur, sieh nur! Ist’s nicht wie Frühling?!“ Sie trällerte hoch und hell.
„Nun, armes Herz, vergiss der Qual!
Nun muss sich alles, alles wenden!“
Mit einer Inbrunst ohnegleichen sang sie das ‚alles, alles‘ dabei warf sie die Locken zurück, legte den Kopf hintenüber und blinzelte mit halbgeschlossenen, schwimmenden Augen durchs Fenster hinaus in die fahle Novemberluft, die ein einziger verlorener Sonnenstreif flüchtig durchzittert hatte.
„Es ist wie Frühling. Nur ein bisschen, ein bisschen Glück,“ sagte sie träumerisch.
Doktor Leopold Reuter machte ein Haus, ein grosses sogar. An den bestimmten Winterabenden findet sich ‚tout Berlin‘ dort ein. Eintägige Berühmtheiten und die Berühmtheiten einer Saison werden dem erstaunten Publikum nebst ausgezeichnetem Tee und vorzüglicher kalter Küche serviert. Alles, was Geist hat oder doch den Hauch eines Geistes in sich verspürt, glaubt sich verpflichtet, diesen da auch leuchten zu lassen. Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Musiker bilden das Hauptelement, und die Männer der Börse mischen sich dazwischen und schwimmen oben wie Öl auf dem Wasser.
Das wogt und geht auf und nieder in den nicht grossen, aber mit fein künstlerischem Geschmack ausgestatteten Räumen. Die Damen der Bühne lassen ihre blendenden Hälse bewundern, und die Frauen, die nichts bewundern lassen können, ärgern sich darüber.
Wer Orden hat, zeigt sie und zugleich auch die dazugehörige Verachtung solcher Äusserlichkeiten; ein ‚Sich-gar-nichts-drausmachen‘ ist hier am Platz, in diesem Dunstkreis von Dichtern und Denkern, wo die Freiheit des geistigen Horizontes menschliche Eitelkeiten nicht aufkommen lässt. Wer keine Orden hat, zeigt sie — nicht, versteht aber das ‚Sich-gar-nichts-drausmachen‘ noch besser zur Anschauung zu bringen.
Die Damen der Börse rauschen in prachtvollen Schleppen, die Künstlerfrauen zeigen phantastische Gewänder; andere kommen in einfachen Alltagswollenen, und dazwischen huschen kleine Mädchen in weissen Kleidern, wie frühe Blüten am Kirschbaum. Alles ist vertreten. Dummheit sitzt neben Klugheit, Esprit neben Phlegma. Prickelndes Lachen und schwerfälliges „Hm, hm“; goldstrotzende Börsen und schwindsüchtige Beutelchen; Schönheit und Schönseinwollen; Vornehmheit und Demimonde; Ritter vom Geiste und solche, die weder Ritter, noch vom Geiste sind; verschminkte Züge und Rosengesichter — tout Berlin!
Und über dem schwebt das Genie von Doktor Leopold Reuter, alle diese Elemente unter einen Hut zu bringen. Und er bringt sie. Elastisch wie ein Jüngling gleitet der schlanke alte Mann durch die Räume; seine weissen Haare, die die Glatze umstehen, sind gelockt, und in den dunklen Augen hat er Jugend. Er sagt viel Verbindliches, aber er lügt nie, er meint es wirklich so; es ist die unzerstörbare gute Laune seines Herzens, die ihm alles im rosigsten Lichte zeigt. Wo Talent ist, sieht er Genie, wo kein Talent ist, sieht er wenigstens Begabung; alte Frauen scheinen ihm ‚schön gewesen‘, und die jungen sind ihm alle reizend. Passable Gemälde sind ihm Meisterwerke und öde Farbenversuche immer noch Stimmungsbilder. Er ist zum Kunstmäcen geschaffen; immer enthusiasmiert, begeisterungsfreudig, selbst froh, zu leben und andere leben zu lassen.
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