Heute wimmelte es in Doktor Reuters künstlerischen Räumen mehr denn je.
„Die Hoheit — die Hoheit!“
„Haben Sie die Hoheit schon gesehen?“
„Sind Sie schon vorgestellt?“
„Hoheit — Hoheit“ — — —
Die Damen neigten sich wie ein buntes Tulpenbeet, durch das der Wind streicht — Hoheit gingen vorüber.
Hoheit hatten den Hausherrn unter den Arm gefasst, beide waren wie zwei gute Freunde miteinander; der Hoheit noch ziemlich jugendliches, ziemlich einfaches Gesicht trug einen sehr freundlichen Ausdruck, und Doktor Leopold Reuter strahlte in all seiner Herzensliebenswürdigkeit. Er hatte heute eine kindliche Freude.
Sie machten jetzt Halt an einer Portiere, eine junge Dame hatte sich hinter dieselbe gedrückt und sah mit glänzenden Augen vor.
„Ah —!“ Reuter fasste sie an der Hand und zog sie näher. „Geruhen Hoheit! Fräulein Magdalene Langen, eine junge Künstlerin, mein ganz besonderer Schützling! Süsse Stimme, ganz exquisite Art des Vortrags. Da Hoheit selbst hervorragender Künstler sind, werden Hoheit selbst am besten urteilen können. Fräulein Langen ist meiner Ansicht nach die beste Schumannsängerin unserer Zeit — hohe Poesie, intimer Liebreiz!“
Lena war tief errötet, sie kannte zwar Reuters Enthusiasmus und seine Art, im Superlativ zu sprechen, und doch dünkten ihr seine Worte jetzt so wahr, sichere Bürgen; sie sah mit strahlendem Ausdruck der Hoheit ins Gesicht.
Diese lächelte. „Ah — sehr erfreut, das Fräulein gleich zu hören! Schumann, Schumann — ah, Schumann ist mein ganz besonderer Protegé! Sagen Sie, lieber Reuter“ — Hoheit drehten den Kopf interessiert zurück in das andre Zimmer —, „wer ist jene Dame? Die dort, in der rosa Robe! Blendend schön! Dieser Nacken, klassische Arme! Bitte, stellen Sie mir dieselbe vor!“
Noch ein huldvolles Lächeln, ein freundliches Zublinzeln von Reuter — sie gingen.
Also das war die Hoheit, und nun sollte sie der gleich vorsingen?! Lena fühlte auf einmal gar keine Lust mehr. Sie hatte sich so unendlich auf den heutigen Abend gefreut, konnte die Zeit nicht erwarten, war ungeduldig im Zimmer umhergetrippelt und hatte lächelnd ihrem Spiegelbild zugenickt. Die Mutter war geschäftig um sie herumgegangen, hatte sich an der Tochter gefreut und noch oben von der Treppe gerufen: „Amüsiere dich gut, sehr gut! Hast du auch den Hausschlüssel? Die Entreetür mache ich dir selbst auf, ich warte auf dich. Singe sehr schön! Viel Vergnügen!“
Vergnügen —?! Lena warf die Lippen auf und zog sich ganz hinter ihre Portiere zurück; am liebsten hätte sie sich verkrochen. Sie mochte hier nicht singen; sie fühlte, wie sich ihr langsam die Kehle zuschnürte und wie ihr Herz zu klopfen begann. Oh, wenn sie nur fortlaufen könnte! Was machte sich die Hoheit aus ihrem Gesang? Gar nichts, gar nichts; Hoheit rannten ein paar nackten Schultern nach und reckten den Hals nach ein paar weissen Armen! Erbärmlich! Ach, wie traurig stand es um die Kunst! Lenas Fussspitze klopfte nervös den Boden. Vor ihren Ohren wirrte und schwirrte es, und da, in all den Lärm hinein, sollte sie singen? Eine jähe Angst überkam sie. Wenn all die teilnahmslosen Augen sie gleichgültig anstarrten, wenn man sich ganz nah, ganz nah, aber nur aus lauter Neugier um den Flügel drängte, was dann? Man würde sie mustern, seine Glossen machen, sie hatte ja keine blendenden Schultern und keine klassischen Arme; die Hoheit würde gähnen und verstohlen nach Besserem ausschauen.
Ein bitteres Gefühl jagte Lena das Blut aus den Wangen und machte sie bleich. In ihren Knien begann ein Beben; hastig atmete sie mehrmals hintereinander und schluckte, der Hals war ihr ganz ausgetrocknet. Sie presste die Handflächen zusammen, sie waren feucht und kalt. Es war eine Qual, hier zu sein.
Das Geschwirr liess plötzlich nach; eine auffällige Stille war eingetreten. In der Nähe flüsterte es: „Ruhe — Musik — es wird Musik gemacht!“ Und nun hörte Lena eine kichernde Mädchenstimme: „Wie schade, nun muss man still sein, kann sich nicht mehr unterhalten!“ Und ein Herr sagte verdriesslich und ziemlich laut: „Wenn nur die Musiziererei bald losginge! Je eher, desto rascher ist’s überstanden Hoffentlich ist der Schmerz kurz!“
Lena zitterte am ganzen Leib — nein, singen konnte sie hier nicht! Entschlossen schob sie die Portiere zurück; sie wollte gehen, rasch, fort! — Zu spät!
Vor ihr stand Reuter und bot ihr galant den Arm. „Also, Kindchen, en avant! Erlauben Sie, meine Herrschaften! Bitte, bitte — so, danke schön, nun können wir schon durch.“ Mit liebenswürdigem Lächeln schob sich der Hausherr weiter, er zog Lena am Arm nach. Vor der Tür des Musikzimmers staute sich’s — die Hoheit war drinnen.
„Bitte, bitte — ah, erlauben Sie — gnädige Frau, ein klein bisschen rücken!“ Reuter dienerte vor einer umfangreichen, brillantenbesetzten Taille — von Gesicht nichts zu sehen, alles versank hinter der mächtigen Fülle dieses Brustkastens. „Danke sehr, gnädige Frau — ah, unendlich liebenswürdig, meiner kleinen Nachtigall Platz zu schaffen!“ Er küsste den Arm, der aus der brillantenbesetzten Taille hervorquoll. „Charmant, wie immer, ganz charmant! Üben Sie Gnade bei diesem schüchternen Vögelchen, meine Allergnädigste! Die Sonne duldet ja auch andere Gestirne neben sich; sie müssen freilich erbleichen vor Ihrer Glorie!“ Wieder eine Verbeugung und ein zweiter Kuss auf den vorquellenden Arm. Die Brillantenbesetzte knisterte und wogte.
„So“ — Reuter zog Lena über die Schwelle des Musikzimmers. „Eine hochberühmte Sängerin,“ flüsterte er ihr ins Ohr, jetzt Gattin des Bankiers Goldammer — famose Diners — höchst sympathische Frau, ganz charmant!“
Lena fühlte noch den kalten, starren Blick der hochberühmten Sängerin auf sich ruhen, sie sah den brillantenbesetzten Busen wogen. „Ich kann nicht singen,“ sagte sie leise, „wirklich, ich kann nicht!“ Sie versuchte ihren Arm aus dem seinen zu ziehen: „Oh, lassen Sie mich!“
„Fahnenflüchtig? Hoho, nichts da, nichts da!“ Reuter drückte ihren Arm noch fester. „Nur nicht ängstlich, Kindchen! Nun freut man sich, dass man der kleinen Nachtigall mal Gelegenheit geben kann, sich hören zu lassen, und sie will davonfliegen? Oho, nichts da! — Bitte, meine Herrschaften — pst, pst — einen Augenblick Gehör! Fräulein Magdalene Langen wird die Güte haben, uns einige Schumannsche Lieder zu singen — pst — pst!“
Vor Lenas Augen tanzten rote Funken, und dann wurde es schwarze Nacht. Mechanisch, ohne zu sehen, machte sie ein paar Schritte gegen den Flügel. „Soll ich mich selbst begleiten,“ fragte sie stockend, „oder —“
„Nein, bitte.“ Doktor Reuter klopfte ihr beruhigend die Hand. „Es sind soviel musikalische Leute hier, jemand wird die Güte haben.“ Er sah sich suchend um. „Ah, sieh da, lieber Bredenhofer — ganz charmant — Sie wollen begleiten — schön, wunderschön! Sie verstehen ja Schumann aus dem ff, Sie Hans in allen Ecken!“ Er legte dem schlanken, jungen Mann, der sich eben durchgedrängt hatte, die Hand auf die Schulter. „Noch ganz ausser Atem? Dacht ich’s doch, natürlich noch in x anderen Gesellschaften gewesen! Also bitte, lieber Bredenhofer, darf ich vorstellen: Fräulein Magdalene Langen — Herr Richard Br — ah, Sie kennen sich schon, charmant, ganz charmant!“
Vor Lenas Augen war es noch dunkler geworden und jetzt plötzlich hell, blendend hell. Schwankend lehnte sie sich an den Flügel. Ein eiskalter Strom lief ihr über den Leib, und dann schlug ihr eine glühende Hitze ins Gesicht. Da stand er vor ihr, dem sie nie mehr zu begegnen geglaubt — er! Die Gesichter ringsum wurden zu weissen, tanzenden Flecken, die Lichter in den Kandelabern streckten feurige, ellenlange Zungen heraus, es war ein Getöse, ein Rattern, ein Rasseln — — —
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